sinus hat geschrieben:Wir willst du denn nachträglich den IQ historischer Persönlichkeiten feststellen?
Genau DAS ist der Punkt. Man kann es nicht! Aber da man heute so fortschrittlich ist dass "Kann man nicht - gibt´s nicht!" die Devise ist, hat man halt ein paar Psychologen befragt, wie hoch sie den IQ von verschiedenen historischen Persönlichkeiten SCHÄTZEN. Keine Ahnung wer das war, keine Ahnung, wer sie ausgesucht hat, keine Ahnung ob sie sich wo getroffen und abgestimmt haben oder ob jeder einen Fragebogen mit seiner Einschätzung ausfüllen musste, keine Ahnung, ob sie ihre Einschätzung begründen mussten...
...das ist eben KEINE wissenschaftliche Vorgehensweise, sondern gleicht Kaffeesudleserei. Genausogut hätte man Anfang des 20. Jahrhunderts z.B. 10 Physiker abstimmen lassen können, wie hoch ihrer Einschätzung nach die Lichtgeschwindigkeit ist, und den Mittelwert als Wahrheit ansehen
.
Dafür kann die Autorin natürlich nichts, aber offensichtlich vergleicht sie in ihren Buch ständig Äpfel mit Birnen. Wobei die Äpfel die in der Anleitung angesprochenen Höchtbegabten laut Normalverteilung sind (die in einem IQ-Test TATSÄCHLICH ein Ergebnis von 145 oder mehr erreichen) und die Birnen die historischen Persönlichkeiten, für die völlig unwissenschaftlich nachträglich ein IQ im Bereich der Höchstbegabung vermutet wurde.
sinus hat geschrieben:
Und genau diese extremen Widersprüchlichkeit innerhalb ihrer Persönlichkeit ist ja genau das, was sich letzten Endes durchzieht durch all die Biographien und Lebensgeschichten.
In sehr viel größerer Ausprägung, Intensität und Vielfalt, als bei anderen Menschen.
Dass das auch bei moderater Hochbegabung so vorkommt/vorkommen kann, schreibt sie ja auch.
Da stellt sich die Frage, warum die Autorin genau DIESE Persönlichkeiten für ihre Vergleiche ausgewählt hat. Hat z.B. Goethe, dessen IQ ja je nach Quelle im Bereich 170-210 geschätzt wird, nicht in ihr Klischee gepasst, weil er eben NICHT so genügsam und sozial zurückgezogen war wie die porträtierten Persönlichkeiten?
Es gibt so viele historische Persönlichkeiten, dass ich die Auswahl daraus so treffen kann, dass jegliche Theorie bezüglich ihrer Gemeinsamkeiten "im Wesen" gestützt werden kann. Ich schätze mal, mehrere hundert Biografien oder Autobiografien bekannter Persönlichkeiten aus den verschiedensten Bereichen gelesen zu haben, von Maria Theresia bis zu Muhammed Ali. Die waren sicher nicht alle extrem begabt im Sinne eine IQ von mehr als 145, haben aber alle IN IHREN BEREICHEN Herausragendes geleistet (sonst wären sie ja keine bekannten Persönlichkeiten).
Aber treffen die Gemeinsamkeiten, die aus der Auswahl der Autorin hervorgehen, wirklich auch auf "normale" Höchstbegabte zu? Sind die geschätzten 80.000 Personen, die in Deutschland einen IQ von 145 oder mehr erreichen, vom Wesen her wirklich mit den bewusst ausgewählten, porträitierten Genies zu vergleichen? Kann man aus ihrem Leben Schlüsse ziehen, welche Chancen, Herausforderungen und Hindernissen jenen Menschen begegnen, die NICHT weltbekannt sind, sondern "nur" einen sehr hohen IQ haben?
sinus hat geschrieben:
Wo ich dir recht gebe und was ich auch damit meinte, dass es anders als erwartet war - man kriegt nichts zu lesen über wirkliche Unterschiede zwischen Höchstbegabung und Hochbegabung. Aber wie denn auch bei der kleinen Stichprobe und der Unmöglichkeit, von den Genies einen IQ-Wert zu bekommen.
Da gebe ich dir recht. Es ist unmöglich, nachträglich den im Buch behandelten Persönlichkeiten einen IQ-Wert im Höchstbegabungsbereich zu beweisen. Aber wenn was unmöglich ist dann soll man es bleiben lassen und nicht mit offensichtlich willkürlichen Daten arbeiten! Einstein hat zu einer Zeit gelebt, als es schon längst IQ-Tests gab. Aber vermutlich hätte er einen Lachkrampf bekommen, wenn man ihm gesagt hätte, er solle einen machen. Zu Recht, denn seine Leistung gehört ihm, unabhängig davon, ob das Ergebnis des IQ-Tests so herausragend gewesen wäre, wie man jetzt rückblickend vermutet!
Die tatsächlich GETESTETEN Höchstbegabten sind übrigens keine so winzig kleine Stichprobe. Marilyn vos Savant (Schriftstellerin) galt lange Zeit als intelligenteste Frau der Welt mit einem getesteten IQ um 230. Thomas Wolf (Informatiker) gilt mit einem IQ um 200 als der intelligenteste Mensch Deutschlands. Nur passen diese Persönlichkeiten mir ihrem vergleichsweise "normalen" Leben vermutlich nicht ins Genie-Klischee.
Eine der Persönlichkeiten, denen man einen IQ im Bereich der Höchstbegabung unterstellt ist auch der ehemalige Schachweltmeister Gerry Kasparow. Der war zum Zeitpunkt seiner Höchstleistungen sogar mal bereit, sich verschiedenen, von der Zeitschrift "Spiegel" zusammengestellten IQ-Tests zu unterziehen. Das ist hier genau nachzulesen:
https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13526693.html
, aber wer sich nicht durch einen weiteren Artikel lesen will, für den habe ich das Ergebnis hier zusammengefasst:
Über die Intelligenz Kasparows läßt sich aufgrund dieser Tests nur sagen, daß sie erheblich über dem Durchschnitt liegt, aber bei weitem nicht so hoch ist wie die Intelligenz von Jahrhundert-Genies, zu denen neben Goethe auch Einstein gezählt wird. Deren Intelligenzquotient wurde postum von einigen Psychologen auf 200, von anderen auf 180 geschätzt.
Interessanter Weise scheint Kasparow bei der Bild-Zeitschrift trotzdem mit einem geschätzten IQ von 190 auf
. Naja, die meisten Leute haben ihre Bildung offensichtlich aus der Bild
.
Und genau das meine ich: es ist nicht MÖGLICH, historische Persönlichkeiten nachträglich mit einem glaubwürdigen IQ-Etikett zu versehen und dann in einem Atemzug mit Menschen zu vergleichen, die bei einem IQ-Test Ergebnisse im Bereich der Höchstebegabung erzielt haben. Die meisten IQ-Werte, die man z.B. im Netz ergoogeln kann, sind schlichtweg Quatsch!
sinus hat geschrieben:
Im Grunde geht es im Buch tatsächlich nicht um das Thema "Höchstbegabung" im Sinne eines Fachbuches über das Phänomen "Höchstbegabung" an sich, sondern um die charakterlichen Eigenschaften von (schöpferisch erfolgreichen) bekannten Genies.
Die von extremen Widersprüchen innerhalb der einzelne Person geprägt sind.
Wo die sich zeig(t)en und welchen Einfluss sie auf das Leben und Schaffen der Genies hatte.
Wäre das Buch im Zuge einer Deutsch-Arbeit geschrieben worden, könnte man es schlichtweg als "Themenverfehlung" sehen. Vergleicht man es mit einer Mathe-Arbeit, so ist in einem der ersten Rechenschritte ein grober Fehler unterlaufen, und zwar das bunte durcheinander-mischen von Höchstbegabten und als historischen Persönlichkeiten, die als "Genies" gelten. So gut und sorgfältig auch DANACH recherchiert wurde, der Fehler wurde von Anfang bis zu Seite 126 (wo ich gerade bin
) mitgezogen, und ich vermute mal, dass er bis zum Schluss weiter bestehen wird.
Die Gretchenfrage hier lautet für mich: Hat die Widersprüchlichkeit der hier ausgewählten "Genies" IRGEND ETWAS mit der Persönlichkeitsstruktur von Menschen zu tun, die bei einem IQ-Test einen Wert von 145 oder mehr erreichen?
sinus hat geschrieben:Und es fehlt natürlich an Nachweisen, dass diese tatsächlich im Sinne eines IQ von >145 höchstbegabt waren. (Wobei ich denke, das Brackmann da aus ihren klinischen Erfahrung heraus schon ein wenig Urteilsvermögen mitbringt)
Zu dieser Einschätzung fällt mir ein Vergleich ein. Du weißt sicherlich, dass die meisten Basketballspieler sehr groß sind. Die Körpergröße verschafft ihnen beim spielen Vorteile gegenüber kleineren Mitspielern, ist aber längst nicht das einzige Kriterium für einen erfolgreichen Basketballspieler. Es ist ein Fakt, dass normal wüchsige Personen IM SCHNITT seltener erfolgreiche Basketballer werden als Großwüchsige. Doch der Umkehrschluss, dass alle großwüchsigen Personen auch gute Basketballspieler sind, ist schlichtweg falsch.
Wenn es zu den Basketballspielen und Spielern der Vergangenheit keine Größen-Aufzeichnung geben würden, könnte man dann auf Grund ihrer Spielerfolge nachträglich auf die Körpergröße schließen? Könnte man auf Grund der Größe einer beliebigen großwüchsigen Person sagen, wie gut sich diese Person auf dem Basketballfeld bewähren würde? Wie groß würde man Muggsy Bogues schätzen, wenn man nur seine Erfolge sehen würde?
Aber genau so was versucht Frau Brackmann in ihrem Buch. Der IQ ist eine von Genie oder außergewöhnlichen Leistungen UNABHÄNGIGE Größe. Auf Grund des IQs kann man keine herausragenden Leistungen vorhersagen, genauso wenig, wie man auf Grund herausragender Leistungen einen IQ nachreichen kann. Klar ist jede der vorgestellten Persönlichkeiten AUF IHREM GEBIET genial und es kann durchaus sein, dass die eine oder andere wirklich auch bei einem IQ-Test einen Wert von 145+ erreicht hätte (im Vergleich zu gleichaltrigen Personen derselben Zeitperiode und desselben Kulturkreises). Vermutlich hat auch der Großteil der Persönlichkeiten einen überdurchschnittlichen IQ und es sind deutlich mehr Hoch- oder Höchstbegabte darunter als in der Durchschnittsbevölkerung. Genauso, wie mehr große und großwüchsige Personen unter den Basketballspielern sind.
Aber das ist auch schon alles, was man vermuten kann. Der Rest ist willkürlich bunt zusammengewürfelt. An manchen Stellen durchaus interessant, aber alles andere als eine ordentliche Recherche.
sinus hat geschrieben:
Ich vermute mal, dass die Datenlage zu getesteten Höchstbegabten einfach nicht genug hergibt, um daraus eine relevante Studie zu machen.
Was ich am Untertitel kritisieren würde, weil es auf die falsche Fährte führt, ist, dass er "Die Persönlichkeitsstruktur von Höchstbegabten und Genies" lautet.
An sich müsste er lauten "Die Persönlichkeitsstruktur von erfolgreichen Genies".
Die Weltbevökerung ist aktuell ca. 7,77 Milliarden Menschen - was bei 0,1% Höchstbegabten insgesamt 7,77 Millionen weltweit ergibt. DAS soll nicht für eine relevante Studie reichen
? (mir ist klar, das längst nicht alle getestet sind, aber es gibt schließlich auch vereine für Höchstbegabte wie Prometheus Society, wo nur Meschen mit einen IQ von 160+ aufgenommen werden. Also wer will findet Möglichkeiten, wer nicht will findet Gründe
! )
Tatsächlich ist das Buch nicht mal der Versuch einer relevanten Studie. Ja, der Titel "Die Persönlichkeitsstruktur von EINIGEN erfolgreichen Genies" wäre viel passender. Da im Buch (zumindest bis Seite 125) KEIN EINZIGER Höchstbegabter auch nur namentlich genannt wurde, darf es nicht so dargestellt werden, als würde das Buch Menschen mit hohem IQ beschreiben!
sinus hat geschrieben:
Alles in allem fand ich das Buch wie gesagt hochinteressant, auch wenn es ganz anders als erwartet war.
Allein die Unmenge an biographischen Einzelheiten, innerhalb eines Buches versammelt...
Ich sehe es auch nicht per se als schlecht. Das ist ja das, was ich schade finde: viel Arbeit, viel Recherche und ein Denkfehler zu Beginn des Vorgangs macht jegliche Schlussfolgerung daraus unmöglich. Auf Seite 117 wird Marie Curie zitiert: "Ein guter Forscher muss kühn sein, wagemutig, abenteuerlustig UND streng methodisch vorgehen!". Tja, und genau DAS (streng methodische Vorgehen) hat bei diesem Buch leider gefehlt.