Wir haben jetzt gestern nochmal mit dem Kinderarzt telefoniert und mit ihm das Ergebnis der Untersuchung durchgesprochen. Hinter der Glasscheibe saßen wohl sieben Leute (!). Wie gut, dass ich das nicht wusste, denn dann wäre ich supernervös gewesen und das hätte sich dann wohl bestimmt auch auf Amelie übertragen.
Jedenfalls hat sich der Verdacht auf Autismus nicht bestätigt, der Kinderarzt meinte, dass die sich da ziemlich schnell einig waren. Die Logopädin hat gesagt, dass sie hervorragend sprechen kann, wobei sie am Anfang immer so eine Art Babysprache verwendet hat. Sie hat immer so mit Ein- oder Zweiwortsätzen geantwortet und die Wörter extra undeutlich ausgesprochen. Das hat sie aber gemacht, weil sie verlegen war. Sie spricht so, wie die kleinen Kinder in der Krippe, weil sie vielleicht denkt, dann hat sie so eine Art Welpenschutz. Die Logopädin ist dann nach 20 Minuten Kaffeetrinken gegangen, weil sie meinte, für sie würde es nichts zu tun geben. Auch nett...
Das mit dem König der Löwen lässt sich so erklären, dass sie schon begriffen hat, dass sie bei dem Test zeigen soll, was sie alles kann. Und sie kennt eben die Dialoge aus dem Film streckenweise auswendig und das wollte sie nur präsentieren. Denn das ist das, was sie als Herausforderung begreift. Sie kann nicht verstehen, warum sie so blöde Sachen machen soll, wie über drei Quader aus Schaumstoff zu krabbeln. (Dafür brauchte es drei Anläufe, weil sie darübergehopst ist wie ein Frosch, gekrochen ist wie ein Löwe, der sich anschleicht, und noch irgendwas anderes, was alles übrigens ziemlich albern aussah.) Das war aber auch für die Psychologen offensichtlich, dass ihr das mit dem Krabbeln zu blöd war, zumal ihr kleine Schwester jetzt gerade anfängt zu krabbeln.
Ich will euch aber nicht verschweigen, dass die Experten trotzdem Defizite festgestellt haben und zwar:
Sie ist für ihr Alter ziemlich grobmotorisch und im Verhalten mit anderen Menschen etwas wenig taktvoll. Sie blickt nicht auf, wenn sie angesprochen wird, und sie sagt ohne Umschweife, was sie will und was sie denkt. Sie beherrscht die soziale Kommunikation durch Rückmeldungen nicht, dieses, was man auch "Soziales Grunzen" nennt. Daher entsteht der Eindruck, dass sie nicht zuhört. Wenn man dann aber 28 Mal nachfragt, merkt man irgendwann, dass sie die ganze Zeit zugehört hat und aber einfach nicht reagieren will, weil sie gerade mit was Anderem beschäftigt ist. Daher ist es auch nicht ADS, denn sie konzentriert sich auf eine Sache und bleibt auch dabei, nimmt aber gleichzeitig auch irgendwie andere Reize wahr und entscheidet dann, dass diese Dinge für sie zweitrangig sind. Wenn man zu penetrant eine Rückmeldung von ihr einfordert, wird sie sehr unfreundlich und sagt auch, dass sie in Ruhe gelassen werden will.
Mir ist aufgefallen, dass sie im Test nicht damit klargekommen ist, dass sie diese ganzen Sachen wie Malen, eine Figur aus Knete ausstechen usw. nicht zuende machen durfte. Beim Malen hat sie auch gesagt, dass sie mit dem Malen noch nicht fertig ist und noch Bild malen möchte. Das durfte sie dann auch und dann hat sie auch ganz brav gesagt: "So, jetzt bin ich fertig!" und sich dann auch auf die nächste Aufgabe eingelassen.
Das mit dem Perfektionismus ist den Testern auch aufgefallen. Sie wurde aufgefordert, einen Menschen zu malen. Sie malt ja zur Zeit recht viel, aber sie hat schon am Montag bei der U 8 gesagt, dass sie keinen Menschen malen kann. Und jetzt kam diese Frage wieder und ich habe ihr gleich angesehen, dass sie genervt war. Die Ergotherapeutin meinte dann, dass sie es mal versuchen soll, aber sie wollte nicht und hat dann kann gesagt: "Nein, ich kann bis jetzt nur ausmalen, aber auch noch nicht so richtig!" Und bei einer Aufgabe sollte sie irgendwie solche Memory-Karten zuordnen und da hat sie die Ergotherapeutin verbessert: "Nein, dass ist keine Burg, das ist ein Schloss!" (Ich weiß, was sie meinte, denn das Schloss hatte einen spitzen Turm und keine Zinnen.)
Ich sage euch ganz ehrlich, teilweise habe ich mich ein bisschen geschämt, weil sie eigentlich sonst im Umgang mit anderen nicht so respektlos ist. Aber sie hat mir dann später auch gesagt, dass sie die Ergotherapeutin nicht mochte, denn "die wollte eigentlich gar nicht mit mir spielen, die wollte mir nur Fragen stellen." Auf gut deutsch: Sie hat sich von ihr und von uns vera***t gefühlt.
Andererseits habe ich auch die ganze Zeit gedacht: Ich kann da so gut verstehen, dass die Erzieherinnen wirklich keine Lust darauf haben, denn ist ist schon für mich als Mutter anstrengend und ich habe nur zwei Kinder und nicht 25. Und ich weiß manchmal aus Erfahrung, was ihr Problem ist, aber die Erzieherinnen kennen sie gerade mal ein halbes Jahr. Und in der Schule wird es nicht besser.
Meine Mutter hat mir übrigens erzählt, dass sie durch den Schuleignungstest durchgefallen ist, weil sie ein Haus ohne Tür gemalt hat. Sie wurde dann gefragt, warum das Haus keine Tür hat und da hat der Dreikäsehoch geantwortet: "Weil die Tür hinten ist, wie meiner Oma. Die kann man von vorne nicht sehen." Bei ihr wurde eine Hochbegabung nie vermutet, sie hat später das Gymasium abgebrochen. Sie hat dann mit 30 Jahren eine Zulassungsprüfung gemacht und studiert, mit Auszeichnung abgeschlossen und dann später mit Auszeichnung promoviert. Sie ist so ein Mittelding zwischen Minderleister und Hochleister.
Es kommt sehr stark drauf an, in welche Richtung das bei Amelie kippt. Ich denke, sie kann vieles leisten, aber sie wird sich vieles im Leben selbst kaputtmachen, wenn sie so wenig anpassungsfähig ist.
Empfohlen wurden uns als Maßnahme zwei Dinge: Erstens Reha-Turnen, um ihre Feinmotorik besser zu schulen, und zweitens, Ergotherapie, wo sie auch lernen muss, nicht immer in ihre Aufgaben abzutauchen, sondern auch mal etwas unfertig zu lassen. Und sie soll natürlich dort mehr über die zwischenmenschliche Kommunikation lernen.
Wegen der HB hat der Kinderarzt nochmal gesagt, dass wir das jetzt erstmal sein lassen sollen mit der Testerei, um das Kind nicht zu verunsichern. Er ist der Meinung, dass es im Alltag wenig nützt zu wissen, ob ein Kind einen IQ von 125 oder 135 hat. Es wird vermutlich im letzten Kindergartenjahr wieder relevant werden. Und er sagte nochmals: Wenn das Kind fragt, dann ist es auch bereit zu lernen. Ich soll also für die Zukunft auf Altersempfehlungen pfeifen und noch danach gehen, wie sie reagiert. Aber sie zeigt es ja sehr deutlich, wenn sie das Interesse verliert.
Aber gleichzeitg dachte ich auch:
Wenigstens hat er nicht gesagt, dass ich mir was einbilde... Ich habe echt fest damit gerechnet, dass er irgendwann sagt: "Hören Sie mal, junge Frau, wir wollen mal nicht übertreiben. Soooo schlau ist ihr Kind nicht!" Das wäre mir doch ein bisschen unangenehm gewesen.
"Entschuldigung, ich habe nur kurz fantasiert." meine große Tochter, 4 Jahre alt (inzwischen 9 geworden)