Hallo Rabaukenmama,
ich wollte zu folgenden Punkten noch ein etwas schreiben, weil ich da am Nachmittag drüber nachdenken musste,
Rabaukenmama hat geschrieben:
Der Meinung, dass ich durch meine Hochbegabung den sozialen Bereich besser ausgleichen kann, bin ich nicht. Ich hatte doch 3 Jahrzehnte meines Lebens sehr grosse Schwierigkeiten im Umgang mit meinen Mitmenschen. Die Diagnose "hochbegabt" wurde bei mir zwar schon mit 6 Jahren (durch den Schuleintrittstest) erstmals gestellt, aber richtig selbst bewusst wurde ich mir dessen erst mit 15. Geholfen hat mir die Erkenntnis, HB zu sein, erst mal gar nichts, eher im Gegenteil. Ich sah in mir das verkannte Genie auf das die böse Umwelt keinerlei Rücksicht nimmt und das hoffnungslos unter die Räder irgendwelcher dummen Ignoranten gekommen ist. Und das meine ich NICHT sarkastisch, ich habe es tatsächlich so gesehen.
Ich weiß ja nicht wie hoch Dein IQ ist, aber bei mir ist das so, dass ich eigentlich in allen Tests IQ135 +- 3 erreiche, was auch mein psychologisch getesteter Wert ist, ich bin als so der 'Durchschnittshochbegabte'. Ich wusste eigentlich von Anfang an, dass ich mit den 'normalen' Menschen nicht viel anfangen kann und die mit mir ebenfalls auch nichts. Ich habe dadurch, dass meine Eltern als Beamte ständig versetzt wurden und durch familiäre Umstände, auch ständig die Schule gewechselt. Bis zum Abitur war ich insgesamt auf 6 Schulen und da die Klassen damals wegen der geburtenstarken Jahrgänge recht groß waren (so zwischen ab 30 und bis zu 43 Schüler und die Oberstufe war auch riesig), hatte ich auch das 'Vergnügen' mit sehr vielen Klassenkameraden/innen (über 200) die Klassen und Kurse zu teilen und von sehr vielen verschiedenen Lehrern unterrichtet zu werden (bestimmt über 60). Unter all diesen Menschen habe ich in 13 langen Jahren niemanden gefunden, der/die sich mit mir auch nur annähernd auf einem intellektuellen Niveau befand, ich hatte also während der ganzen Schulzeit niemanden mit dem ich mich adäquat hätte austauschen können.
Es war dabei nicht so, dass ich irgendwie außen vor war, weil ich nicht gemocht wurde, ich war sogar Klassensprecher und wurde ganz normal eingeladen und bekam auch Besuch, aber das waren alles völlig oberflächliche Kontakte, ohne jeglichen Tiefgang, mich interessierte einfach null mit was für Dingen sich die Jugendlichen beschäftigten, ich konnte vor allem mit den pubertierenden Jungen rein gar nichts anfangen, die stellten sich mir wie ein hirnlose Horde Affen dar, die auf Grund von Hormonflutungen jegliche Kontrolle über ihr zerebrales System verloren hatten und obwohl ich auch Freundinnen hatte, hielten diese 'Beziehungen' halt nicht lange und das lag nicht an fehlender 'Verliebtheit' sondern alleine an dem Umstand, dass ich mich zwar unter diesen Menschen physisch bewegte, aber dennoch mental völlig isoliert war. Ich musste um diese Sozialkontakte aufrecht zu erhalten, vor allem wenn es um 'Freundschaften' zu Jungs, aber auch die ersten Liebesbeziehungen ging, im Grunde meine Persönlichkeit aufgeben, um den Anforderungen zu entsprechen und das verstieß gegen alle meine Prinzipien, das war mir unmöglich.
Du schreibst sehr schön, dass Du Dich als das verkannte Genie gesehen hast, auf das keiner Rücksicht nimmt. Genau das habe ich auch erlebt, im Grunde war mein Kindheit, Jugend und Adoleszenz ein, wie Du das schön beschreibst, 'intellektuelles und emotionelles unter die Räder kommen', mit dem man (so auch ich) irgendwie selbst klar kommen musste, denn es gab objektiv niemanden, der die Problematik in der ich mich befand hätte greifen können und mit dem man sich hätte austauschen können. Du schreibst dann weiter:
Rabaukenmama hat geschrieben:Von da an dauerte es noch weitere 15 Jahre mit kaum sozialen Kontakten und im ständigen Versuch, einen Spagat zwischen Anpassung (schliesslich WOLLTE ich ja Freunde) und Selbstverwirklichung zu machen, bis ich erkannte, dass nicht meine Mitmenschen ein Problem mit MIR haben sondern ICH ein Problem mit meinen Mitmenschen. Und für die Lösung MEINER Probleme bin ich nun mal selbst verantwortlich. Es begann dann eine Zeit, wo ich langsam aber sicher vom hohen Ross runterkam und ALS ERWACHSENE Dinge lernte, die sich ein Grossteil meiner Mitmenschen (mehr oder weniger) schon im Kindesalter angeeignet hatte.
Damit meine ich: ich lernte, dass es gefühlsmässig einen grossen Unterschied macht, ob jemand etwas (was mir z.B. schadet) absichtlich, fahrlässig oder aus Versehen tut. Ich bemerkte, dass bei den meisten Dingen, wo ich nächtelang Gründe gesucht hatte, anderen ihre "Schuld" hieb- und stichfest nachzuweisen, meistens ICH SELBST der Agressor und Konfliktauslöser war. Weiters erkannte ich, dass eine Entschuldigung an Wert verliert, wenn ihr ein oder mehrere Male das Wort "aber" folgt. Vor allem aber erkannte ich, dass ich NICHT perfekt sein muss um nicht von den anderen "niedergemacht" zu werden.
Ich begann, mir einen Freundeskreis aufzubauen, der aus Menschen bestand, die ehrlich zueinander waren und mir manchmal die Wahrheit beinhart ins Gesicht sagten (was mir oft gar nicht gefiel). Durch diese neuen Freunde lernte ich immer besser, meine Gefühle in Worte zu fassen und zu erkennen, wo es - im eingenen Interesse oder im Interesse der anderen - besser ist, zu schweigen. Ja, man kann auch schweigen OBWOHL man noch Argumente hätte - das hatte ich jahrelang nicht so praktiziert und plötzlich ging es mir dabei sogar BESSER als davor, wo ich bis zum letzten Atemzug ums "Recht haben" gekämpft hatte.
Das war aber für mich schwierig und immer wieder mit Rückschlägen verbunden. Sicher nichts, was mir durch meine Hochbegabung erleichtert worden wäre.
... das mit dem neuen Freundeskreis war bei mir genauso, ich bin eine Woche nach dem Abi zu Hause ausgezogen und nie wieder zurückgekehrt, womit gemeint ist, dass ich meine Kindheit und Jugendzeit und alle dort wirkenden Personen vollständig zurückgelassen habe und ich das Glück hatte auf der Uni sofort andere intelligente Menschen und auch Hochbegabte zu finden mit denen ich mich das erstmal austauschen konnte und die nach den gleichen Prinzipien lebten und in den gleichen Kategorien dachten wie ich auch. Das Leben war auf einmal spannend und schnell, eine enorme Beschleunigung ...
... was Du aber schreibst, "vom hohen Ross runterkommen", "anderen ihre "Schuld" hieb- und stichfest nachzuweisen, meistens ICH SELBST der Agressor und Konfliktauslöser war.","dass ich NICHT perfekt sein muss um nicht von den anderen "niedergemacht" zu werden." sieht für mich wie ein Rückschritt aus.
Ich weiß es ist für Dich ein Fortschritt und jeder Mensch geht seinen eigenen Weg, aber aus meiner Sicht ist das irgendwie doch ein sehr devote Grundhaltung, denn aus meiner Sicht hast Du als Hochbegabte 'zu Recht' auf dem hohen Ross gesessen und es war 'richtig' den anderen die Schuld zu geben und man ist selbst nicht der Agressor, oder Konfliktaulöser, sondern es sind die Umstände und das Umfeld vor allem das extrem hohe intellektuelle Gefälle, welches sich nicht nivellieren lässt (durch gar nichts), welches, wenn es nicht reflektiert wird, fast zwangsläufig ein extrem hohes Konfliktpotential entstehen lässt. Aus meiner Sicht trägst Du daran überhaupt keine 'Schuld', sondern im Gegenteil, wenn es Dir 30 Jahre so ergangen ist, dann bist Du Opfer. Opfer von gesellschaftlichen Strukturen in denen Menschen mit hohem Intellekt sich verstecken müssen, sich verbiegen müssen, sich bis zur Selbstverleugnung hin anpassen müssen, um überhaupt soziale Kontakte zu haben, oder eben, wie Du einen jahrzehntelangen Kampf führen, mit sich selbst und anderen.
Ich schreibe hier jetzt darüber, weil ich zwar den persönlichen Nutzen für Dich sehe und mich freue, dass Du so einen ehrlichen Freundeskreis gefunden hast, aber ich denke Du solltest eventuell noch mal über Dich selbst als Kind, Heranwachsende und junge Frau nachdenken und das Ganze aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten, denn ein Satz wie, "dass nicht meine Mitmenschen ein Problem mit MIR haben sondern ICH ein Problem mit meinen Mitmenschen" stimmt aus meiner Sicht nicht, oder besser ist nur die halbe Wahrheit, denn natürlich hatten Deine Mitmenschen ein Problem mit Dir und für diese Probleme gab es handfeste Gründe und die hatten nur vordergründig etwas mit deinem vermeintlich mangelhaften Sozialverhalten zu tun, denn dieses ist letztlich nur der Ausdruck der dahinterliegenden Problematik, die weit tiefer geht und die sich, anders als ein mangelhaftes Sozialverhalten (so wie Du es getan hast), eben nicht ändern lässt, sondern immanent ist.
Was will ich damit sagen, wo will ich hin? Es ist mir wichtig zu sagen, dass ich denke, dass die Probleme die bei hochbegabten Kindern, jugendlichen und jungen Erwachsenen durch das hohe intellektuelle Gefälle entstehen, eben nicht dem Hochbegabten zuzuschreiben sind, sondern schlicht ein Resultat der Umstände sind. Diese Umstände kann man akzeptieren, oder dagegen einen unsinnigen kraftraubenden Kampf führen, der einen viele Jahre kostet.
Ich denke aber, dass es besonders wichtig ist, mit Sicht auf eigene hochbegabte Kinder, dass man denen diesen Umstand erklärt, sie gar nicht erst in ein Schuldgefühl hineinlaufen lässt und ihnen Strategien vermittelt (am besten durch Vorleben) mit der Gesamtsituation und den daraus eventuell resultierenden Widrigkeiten souverän umzugehen und ihnen mitgeben, dass es völlig ok und normal ist, wenn man nicht krampfhaft an den gesellschaftlichen Aktivitäten teilnehmen will und mit den meisten Menschen einfach nichts anfangen kann.
Und noch mal ganz deutlich, ich freue mich wirklich, dass Du nach 30 Jahren Deinen Weg gefunden hast und kritisiere diesen Weg auch nicht, sondern es geht mir lediglich um die Metaebene und die Reflexion der Historie, da denke ich könntest Du eventuell noch viel für Deine Seelenhygiene bewirken, wenn Du Deine Geschichte nochmal aus diesem Blickwinkel betrachtest.
Rabaukenmama hat geschrieben:
Für mich war selbstverständlich, mich vor meiner Entscheidung für oder gegen CIs (Cochlea Inplantate zur könstlichen Herstellung von Höreindrücken) umfassend zu informieren und das hiess, sowohl die Argumente der Befürworter als auch die der Gegner genau zu lesen bzw. anzuhören und aus der Summe der Informationen die für uns passende Entscheidung zu treffen. Ich kenne einige andere Familien mit inplantierten Kindern. Für den Grossteil davon war es SELBSTVERSTÄNDLICH der Inplantation zuzustimmen, nachdem Logopäde und HNO-Arzt dazu geraten hatten. Die wollten nicht mal kritische Stimmen dazu lesen um sich selbst nicht zu verunsichern.
Ehrlich gesagt kann ich mir nicht vorstellen, dass es sich bei Asperger-Syndrom deutlich anders verhält.
Da kannst Du sicher sein, das verhält sich genauso und Mütter wie Du, die sich informieren und kritisch hinterfragen, sind da nicht wirklich gerne gesehen. Letzten habe ich noch eine schönen Bericht gesehen zum Thema Cochlea Implantate vs. Recht auf Taubheit und Stummheit und dem schleichenden Verlust und der Abwertung von hohen Kulturtechniken, wie der Taubstummensprache oder dem Lippenlesen gesehen... der Drang der Normalen Alle und Alles 'normal' machen zu wollen ist irrsinnig hoch, da werden einfach keine Frage mehr gestellt, vor allem wenn es vermeintlich um das eigene Kind geht, obwohl es nur vordergründig darum geht, sondern eigentlich um die eigene Person... ich höre manchmal am Wochenende so am Rande, wenn sich Tochter und Freunde auf dem Spielplatz treffen, wie sich deren Mütter (das sind alles auch noch Lehrerinnen) über Inklusion unterhalten. Das ist so erschreckend, weil die alle überhaupt keine Ahnung und noch weniger Erfahrung haben und auch noch verlogen sind... denn sie erzählen z.B. anderen Eltern, dass diese doch ihren Kindern vor der Schule keine Schulbücher geben sollen, aber selbst geben sie dann untereinander unisono zu, das sie ja mit ihren Kindern auch schon geübt hätten.
Ich wünsche euch noch alles Gute und hoffe, dass sich in den nächsten Monaten in der Lernphase deinem Kind durch die Cochlea Implantate eine ganz neue Welt erschließt, ich denke gerade weil Du Dich intensiv informiert hast, dass dieses (unabhängig vom Ausgang) eine sehr gute Entscheidung für Deine Kind und dessen Zukkunft war und drücke euch weiter fest die Daumen.
Liebe Grüße
Heiner