Flixe hat geschrieben:
Nun zur alles entscheidenden Frage. Wie sehe ich meinen Sohn? Diese, für mich, extreme Hochbegabung hat mich sehr überrumpelt. Es fällt mir schwer, das zu glauben, weil er eben nicht schon immer „über den Dingen schwebt“. Ich habe Ängste, ob er es schaffen wird oder ob er aufgeben wird, wenn er seinen eigenen Ansprüchen nicht gerecht wird. Ich habe Angst, ob er dieses Mal vielleicht besseren Anschluss finden wird oder wie der Lehrer so ein junges Kind generell aufnehmen werden.
Und ganz tief drinnen habe ich diese Alleinerziehenden-Angst, dass ich etwas falsch entscheide oder etwas falsch mache. Und auch wenn es schlimm klingt, ich hätte mit einer Lernbehinderung besser umgehen können. Du hast also völlig Recht, dass auch ich Unterstützung in dieser Situation brauche.
Hallo Mama von Flixe!
Diese Angst, etwas "falsch" zu entscheiden, ist nicht Alleinerziehenden vorbehalten. In den meisten Familien mit Kindern, die ich kenne, entscheiden die Mütter. Die Väter schreien nur laut NEIN wenn ihnen was gar nicht ins Weltbild passt (leider oft ohne sich Gedanken um Alternativen zu machen) und lassen sonst die Mütter machen. Bei uns entscheide auch ich, aber wir haben immerhin den Vorteil, dass mein Mann und ich in den meisten erzieherischen Dingen ähnliche Ansichten haben. Aber in Sachen Schule hält er sich weitgehend raus, weil er die Konfrontation mit den Lehrern scheut. Also gehört dieser Bereich auch mir.
Zu wichtigen Entscheidungen generell: als Alex nicht mal ein Jahr alt war mussten wir (bzw. ich
) entscheiden, ob er Hörimplantate bekommen soll. Von Ärzte-Seite war völlig klar dass er welche "braucht" und dass ich mich dafür entscheide. In der Gehörlosenszene (wo ich bald nach der Diagnose "gelandet" bin) sah man die Implantate eher skeptisch, es gab auch einige vehemente Gegner.
Da das nichts ist, was man mal so locker für 8 Wochen ausprobieren kann, habe ich mir alle Argumente angehört:
FÜR Hörimplantate: das Kind kann durch die Implantate Hörerlebnisse haben, die dem eines normal hörenden Kindes ähneln, es kann mit etwas Glück dadurch auf natürlichem Weg Lautsprache erlernen, welche zu beherrschen für die Integration in der Gesellschaft unerlässlich ist, es kann dadurch mit etwas Glück eine normale Schule besuchen und hat bei Freundschaften eine größere Auswahl, die Gefahr von Ausgrenzung und Mobbing ist geringer, es hat bessere Schul- und Berufsaussichten, es kann Musik hören und auch selbst musizieren, es wird durch das Hörvermögen vor Gefahren im Straßenverkehr gewarnt...
GEGEN Hörimplantate: etwa bei der Hälfte der Kinder zeigt sich nicht die erwünschte Wirkung, sie hören mit dem Implantaten entweder gar nicht oder schlechter als normal hörende Kinder, die Gefahr einer Hirnhautentzündung durch die OP ist 10x höher als bei nicht operierten Kindern, es gibt Fälle von extremen Kopfschmerzen, Persönlichkeitsveränderungen und auch Gesichtslähmungen durch die OP, die "normalen" Risken einer mehrstündigen Operation unter Vollnarkose sind natürlich auch dabei, das Kind kann mit den Implantaten keine Kampfsportarten ausüben und auch von "wilderen" Sportarten wie z.B. Fußball wird generell abgeraten, es braucht bei Flügen einen Implantatsnachweis, kann manche Untersuchungen wie z.B. MR nicht machen lassen, muss im Schnitt pro Implantat alle 15 Jahre re-operiert werden, weil das Teil kaputt geht oder die Technik überholt ist, ist lebenslang von der Versorgung mit korrekter Einstellung (durch spezielle Techniker) und Batterien abhängig...
Dann habe ich mir die Argumente von Eltern angehört, die sich bei ihren Kindern FÜR oder GEGEN die Hörimplantate entschieden haben. Die Eltern, die sich dafür entschieden haben, gaben in erster Linie Angst vor Mobbing, Ausgrenzung und schlechteren Zukunftschancen an, und zusätzlich die Angst, das Kind könnte ihnen später mal den Vorwurf machen, ihnen diese Chancen durch eine Entscheidung gegen die Implantate verwehrt zu haben.
Die Eltern, die sich dagegen entschieden habe, gaben Angst vor der Operation und möglichen Folgen an, Angst davor, dass die Implantate ohnehin "nichts bringen" , bei gehörlosen Eltern kam noch die Angst hinzu, das Kind könnte durch die Implantate von der Gehörlosengemeinschaft "entfremdet" werden, und zuletzt kam noch das Argument, das Kind könnte ihnen später mal den Vorwurf machen, es nicht so geliebt zu haben, wie es geboren wurde - eben gehörlos.
Wirklich ausnahmslos ALLE Eltern, mit denen ich gesprochen und von denen ich gelesen habe, haben ihre Entscheidungen aus Angst getroffen. Sie haben sich nicht für die Variante entschieden, die ihnen als bessere Lösung FÜR IHR KIND erschienen ist, sondern für die, die IHNEN ALS ELTERN weniger Angst gemacht hat. Diese Erkenntnis war für mich Grundlage für meine Entscheidung. Ich wollte sie eben NICHT aus Angst treffen, sondern aus positiven Gründen.
Daher habe ich alle Argumente dafür oder dagegen gesammelt, bin drauf gekommen, dass mein Sohn die Implantate nicht BRAUCHT um eine glückliche, selbstbestimmte Persönlichkeit zu werden, und habe mich dann entschieden, sie ihm dann OHNE ERWARTUNGSHALTUNG als zusätzliche Chance zu ermöglichen.
Leider haben die Implantate bei meinem Sohn keine Wirkung gezeigt, trotz Frühförderung, Logopädie, Wechsel wegen der Einstellung in ein 400km entferntes Krankenhaus und viel Mühe unsererseits. Aber für mich war das keine Enttäuschung, weil ich es einfach als zusätzliche Chance gesehen hatte und nicht als "einzige Rettung". Eines der Implantate musst außerdem vor einem Jahr operativ entfernt werden, weil sich die Stelle entzündet hatte, und über ein Jahr trotz Behandlung nicht abgeheilt ist.
Mein Sohn versteht gesprochene Sprache nicht, spricht nicht, kann aber mittlerweile gut gebärden und sich auch schriftlich verständigen. Er ist fröhlich, vielseitig interessiert und für sein Alter sehr selbstständig. Durch den Autismus gab es einige andere Schwierigkeiten, wie z.B. autistische Wutanfälle und lange Probleme mit dem trocken- und sauber- werden, aber diese waren unabhängig vom Hörimplantat.
Heute mache ich mir keinerlei Vorwürfe, mich damals für die Implantate entschieden zu haben, weil ich weiß, dass es eine positive und keine angstgesteuerte Entscheidung war. Dass sie bei meinem Sohn so gar nichts bringen habe ich nicht wissen können, da bin ich erst nach und nach drauf gekommen.
Deine Entscheidung für den Sprung deines Sohnes ist ein wesentlich einfachere. Im schlimmsten Fall sagt ihr nach der Probezeit "Gut, es war eben nichts" und er geht zurück in die Grundschule. Aber auch bei dieser Entscheidung ist die Haltung dahinter wichtig, also wie DU dazu stehst. Und es ist für deinen Sohn unheimlich wichtig, dass DU es ihm WIRKLICH zutraust und nicht mit sorgengefurchter Stirn irgendwelche Lippenbekenntnisse abgibst, dass er es schon schaffen wird.
Über deine Aussage, es würde dir schwer fallen, das Testergebnis zu glauben, weil dein Sohn eben nicht schon immer "über den Dingen schwebt" musste ich herzlich lachen. Was für ein Bild von Hochbegabten hast du? Ich bin selbst HB mit einem getesteten IQ von 143 und bin wirklich meine Lebetag lang nie über den Dingen geschwebt
. Hochbegabung bedeutet nur, dass man in gewissen Bereichen eben deutlich "schneller im Kopf" ist als die meisten Menschen. Es sagt weder was über die Persönlichkeit aus noch kann man darauf Prognosen für die Zukunft eines Menschen ableiten.
Du hast ein getestet hochbegabtes Kind, welches einen Klassensprung ins Gymasium will, den (wenn ich das richtig verstanden habe) alle involvierten Tester und Lehrer usw. befürworten, und der auch noch bei nicht-gelingen rückgängig gemacht werden kann. Dein Sohn hatte in der Grunschulzeit ohne große Anstrengung durchwegs sehr gute Noten. Er hat sich bei dem Test, der ihm als Voraussetzung für den Sprung verkauft wurde, nach Kräften bemüht und damit gezeigt, dass er durchaus anstrengungsbereit ist (im Gegensatz zum Threadtitel) wenn es um Dinge geht, die IHM (und nicht anderen Personen) wichtig sind.
Wie kommst du unter den Voraussetzungen zu den Ängsten, dein Kind könnte ein underarchiver werden? Natürlich ist es nicht auszuschließen, aber zumindest nach dem, was du von der bisherigen Schulzeit schreibst, wären diese Sorgen viel begründeter, wenn er den 08/15-Weg, auf dem er sich verdrehen und verbiegen musste, um irgendwie "dazu zu gehören", bleiben müsste.
Den Rat von Karen, deine Ängste und die möglichen Chancen durch einen Sprung aufzuschreiben, finde ich übrigens sehr gut. Alles Gute
!