Meine3 hat geschrieben:
mein Mann würde niemals einem "Versuch" mit Retalingabe zustimmen. Das klingt für mich persönlich zwar verlockend, auch wenn ich grundsätzlicher Gegner von zu schneller Medikemantenvergabe bin, aber ich weiß mir langsam auch nicht mehr zu helfen. Da die vermeintlichen Experten, ADHS ja immer so kategorisch ausschließen (Autismus übrigens auch, aber da bin ich ja inhaltlich bei ihnen)..
Die Phasen, wo mein Mann grundsätzlich gegen Versuch von Medikamentengaben war und wo ich auch ein grundsätzlicher Gegner war, haben wir bereits hinter uns. Leider war viel Leidensdruck in der Famillie notwendig, bevor wir unsere Vorurteile abbauen konnten. Vor eineinhalb Jahren standen wir echt an der Kippe, mein Mann mit schweren Depressionen, ich total überfordert und das Ganze noch neben zwei wirklich sehr auffälligen, fordernden Kindern. Hätten wir damals so weitergemacht wären die Kinder heute im Heim und wir beide hätten zumindest längere Aufenthalte in der Psychiatrie hinter uns

. Und das ist KEINE Übertreibung. Es war einfach keine Energie mehr da, keine Kraft, keine Aussicht auf Besserung der Situation, die Depressionen meines Mannes lagen wie eine große schwarze Wolke über der ganzen Familie und ich bin unter der Last der alleinigen Verantwortung fast zusammengebrochen, war reizbar, nervös und oft ungerecht den Kindern gegenüber, was die Situation noch weiter aufgeschaukelt hat. Dass mein älterer Sohn diese Zeit verdrängt haben dürfte (er kann sich nach eigener Aussage nicht mehr daran erinnern) zeigt mir deutlich, wie ich damals wirklich drauf gewesen sein muss

. Dabei habe ich bestmöglich "funktioniert", aber es war eben keine Lebensfreude mehr da und selbst wenn ich mich mal zu was aufgerafft habe hat mich jede kleine Belastung wieder aus der Bahn geworfen.
Ich bin froh, dass wir es mit Medikamenten (bei beiden Kindern) versucht haben. Mein älterer Sohn, bei dem wir verschiedene Ritalin-Produkte ausprobiert haben (retardiert und nicht retadiert) hat auf die Medis gar nicht angesprochen oder hatte extreme Nebenwirkungen. Wir haben sie dann auch nach Rücksprache mit unserem KJP sehr rasch wieder abgesetzt. Hingegen hat Ritalin bei meinem jüngeren Sohn einen sehr positiven Einfluss auf sein Gesamtverhalten. Die extremen Wutanfälle, die unsere ganze Familie auf Stunden "gelähmt" haben, sind wesentlich seltener und kürzer geworden - und das ohne merkbare Nebenwirkungen! Dabei lag zwischen der ersten Verordnung durch eine Kinderneurologin und der ersten tatsächlichen Gabe (nach Rücksprache mit unserem KJP) über ein Jahr Zeit. Wir hatten uns wegen der schlimmen Nebenwirkungen auf dem Beipackzettel und der Berichte von Eltern, die Ritalin ausprobiert haben, einfach nicht getraut, unserem Sohn das "zuzumuten". Mittlerweile ist mein jüngerer Sohn auch unter der Woche im Internat untergebracht, was ihm sehr gut gefällt und die ganze Familie entlastet. So haben wir auch an den Wochenenden wieder Zeit und Kraft für SCHÖNE gemeinsame Aktivitäten als Familie

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Ich will dich jetzt nicht dazu überreden, bei deinem Sohn Medis auszuprobieren. Aber aus eigener Erfahrung kann ich sagen: selbst wenn die Medikamente wirklich schlimme Nebenwirkungen haben SOLLTEN (was sie längst nicht bei allen Kindern haben) kann man sie sofort wieder absetzen und NICHTS ist passiert! Da bleibt nix zurück, was Jahre später mal Probleme machen könnte! Wie es mit den möglichen Langzeitfolgen aussieht ist wieder eine andere Sache. Ich schreibe hier vom AUSPROBIEREN, nicht von jahrelangem, regelmäßigem Konsum.
Ich kenne einen ASS-Jungen (der auch viele ADHS-Merkmale hat), der in den ersten beiden Klassen eine Schulbegleitung hatte und dessen Verhalten in der Schule wirklich sehr schwierig war. Die Mutter des Jungen ist praktische Ärztin und als solche hatte sie große Vorurteile gegen Ritalin und ähnliche Produkte. Ein umdenken hat bei ihr gebracht, als ihr (hochbegabter) Sohn weinend vor seinen Hausaufgaben gesessen ist und gemeint hat "Ich MÖCHTE mich so gerne konzentrieren, aber ich KANN es nicht!". Das ausprobieren hat wirklich eine EXTREME Besserung gebracht - sowohl was Konzentration als auch was das Verhalten betraf. Der Junge bekommt unretardiertes Ritalin. Anfangs waren täglich zwei Gaben notwendig (in der Früh vor der Schule und zu Mittag), später nur noch eine morgendliche Gabe. Bald konnten sie das Medikament auch an den Wochenenden weglassen, weil der Junge zu Hause wesentlich weniger Stress und Belastungen ausgesetzt ist, als im Schulalltag. Durch das Ritalin konnte der Junge lernen, seine eigenen Gefühle endlich "richtig" wahrnehmen und mit normalen Alltagssituationen angemessen umzugehen. Er konnte sich endlich bei den Hausübungen konzentrieren und dank seiner Hochbegabung hatte er sehr schnell Erfolgserlebnisse, die ihm von seiner "Ich-kann-ja-nichts!"-Einstellung wegbrachten. Und vor allem konnte er durch seine Intelligenz auch LERNEN, schwierige Situationen immer öfter auch ohne Ritalin zu überstehen - bestärkt durch die Erfahrung, es ja öfter schon "geschafft" zu haben. Mittlerweile geht der Junge mit sehr guten Noten in die zweite Klasse Gymnasium und kommt seit über 3 Jahren schon ohne Schulbegleiter aus. Das Ritalin nimmt er nur noch einmal morgens. An den Wochenenden und in den Ferien kommt er gut ohne aus und auch so Dinge, die ihn früher sehr gestesst haben (z.B. Schikurs) schafft er mittlerweile ohne Medis.
Mein Sohn hingegen hat auf unretardiertes Ritalin, welches wir in langsam steigender Dosierung ausprobiert haben, überhaupt nicht angesprochen. Es war, als hätte er gar nichts genommen. Bei der retardierten Variante (Ritalin LA 20mg) hatte er hingegen extreme Nebenwirkungen: Lustlosigkeit, totale Appetitlosigkeit, Apathie, depressive Gedanken (an den Tod!

) - er ist wirklich "wie ein Zombie" rumgelaufen (die Worte seiner Klassenlehrerin). Ich wollte schon am selben Tag absetzen, mein Sohn meinte aber, er wolle das Medikament am nächsten Tag noch einmal ausprobieren, um sicherzugehen, dass sein schlimmer Zustand an diesem Tag damit zusammengehangen ist. So haben wir es auch gemacht und am nächsten Tag was extakt das Gleiche. Dann haben wir (nach Rücksprache mit unserem KJP) abgesetzt und seitdem keine Medikation mehr ausprobiert. Nach diesem Versuch war mein Sohn sofort nach nachlassen der Wirkung des Medikaments (ca. 8 Stunden) wieder komplett "der Alte". Wir haben dann regelmäßige Termine bei einer Kinderpsychologin wahrgenommen und als das nach 4 Monaten keine Wirkung gezeigt hat, wieder aufgehört. Dann haben wir mit Neurofeedback begonnen, was mMn schon nach 3 Terminen eine deutliche Besserung der Frusttoleranz gebracht hat.
Aber das konnten wir alles nicht vorhersehen. Es war wirklich Versuch und Irrtum!
Sicher ist unsere Erfahrungsbericht nicht auf deinen Sohn umzulegen, Meine3! Aber er zeigt, dass man, wenn man die Situation für Kind und Familie verbessern will, einfach den Mut braucht, was auszuprobieren. Wir HABEN Ritalin probiert, wir WISSEN mittlerweile, dass es für unseren Sohn nicht geeignet ist, aber wir SUCHEN immer noch nach Möglichkeiten, seine und unsere Situation zu verbessern! Darauf kommt es an! Niemand kann wissen, wie ein Kind auf ein Medikament oder eine Behandlung anspricht, bevor es nicht ausprobiert wurde. Und bevor man längerfristig Medis gibt ist IMMER eine Abwägung des möglichen Nutzens und der Risiken notwendig. Ich hoffe auch bei meinem jüngeren Sohn, das Risperidon bald reduzieren und schließlich ausschleichen zu können (natürlich nach Rücksprache mit unserem KJP), weil es ihm im Moment wirklich DEUTLICH besser geht als damals, als wir damit begonnen haben. Und mir ist schon klar, dass das Medikament - langfristig eingenommen - auch bei keinen merkbaren Nebenwirkungen, organschädigend sein kann. Also einfach aus Bequemlichkeit weiter jeden Tag verabreichen "weil es so gut funktioniert" kommt für uns nicht in Frage! Sollte sich jedoch herausstellen, dass es meinem Sohn im Alltag ohne das Medikament wieder deutlich SCHLECHTER geht, wird er es natürlich weiterhin bekommen. So wenig wie möglich, so viel wie nötig!
Mittlerweile merke ich, dass es ein gängiges Vorurteil ist, Eltern von ADHS-Kindern würden es sich mit der Gabe von Ritalin "leicht machen". Dabei kenne ich persönlich nur EINEN EINZIGEN Fall, wo das Medikament (aus meiner Sicht) leichtfertig verabreicht wurde. Aber das liegt Jahre zurück. Bei den meisten Eltern, die ich kenne, war es ein langer Prozess, überhaupt einmal BEREIT dafür zu werden, Medis AUSZUPROBIEREN (wir sprechen hier noch nicht von regelmäßiger Einnahme). Und niemand, den ich aktuell kenne, hat sich so eine Entscheidung auch nur annährend leicht gemacht!
Der liebe Gott schenkt uns die Nüsse, aber er knackt sie nicht (Johann Wolfgang von Goethe)