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Das Wort "erziehen"
Verfasst: Fr 14. Aug 2015, 07:52
von Rabaukenmama
Mir fällt auf, dass das Wort "erziehen" bei vielen hier negativ besetzt ist.Die Wortbedeutung selbst „jemandes Geist und Charakter bilden und seine Entwicklung fördern“ gefällt mir persönlich aber sehr gut.
Nur versteht jeder was anderes darunter. Die Nachbarin, die meint "Ihre Kinder sind schlecht erzogen!" meint wohl, dass sie zu wenig Druck erfahren haben um sich so zu benehmen, wie SIE glaubt, dass sich Kinder zu benehmen haben.
Und "jetzt müssen wir aber wirklich mit der Erziehung beginnen" verstehe ich so, dass die Zeiten, wo das Kind frei nach Belieben agieren konnte, vorbei sind, und es von nun ab gemaßregelt, ermahnt und wenn nötig auch mit Strafe oder Belohnungen (egal ob materiell oder durch das eigene Verhalten) in eine bestimmte Richtung gelenkt werden soll.
Es ist ein bißchen wie mit dem Wort "lieben". Da kann man vieles sagen: Ich liebe meinen Sohn, meine Patentante, meinen Arbeitsplatz, die Natur, Judo, meine hellblaue Jeans, frische Zwetschgen, meine Fitnesstrainerin, meinen Kabelfernsehanbieter...überall bedeutet "Liebe" etwas anderes.
So ähnlich verhält es sich auch mit dem Wortt "erziehen"; es wird so oft falsch angewendet bzw. interpretiert, dass seine eigentliche Bedeutung kaum mehr bekannt ist.
Dabei findet Erziehung mMn auch dann statt, wenn ich einfach nur daneben stehe und das Kind "machen lasse" oder warte, bis es mit Fragen oder Bitten auf mich zukommt. Erziehung findet auch statt durch das, was ich dem Kind vorlebe. Es beobachtet ja, wie ich mit verschiedenen Situationen umgehe (z.B. wenn sich wer bei der Supermarktkasse vordrängelt) und übernimmt meine eigenen Verhaltensmuster zumindest teilweise. Auch, wie ich in meiner Partnerschaft odermit Freunden/Bekannten agiere beobachtet mein Kind und zieht daraus - bewusst oder unbewusst - seine Schlüsse.
Wie seht ihr das? Was bedeutet "Erziehung" für Euch?
Re: Das Wort "erziehen"
Verfasst: Fr 14. Aug 2015, 10:43
von Momo
Hallo Rabaukenmama,
ein spannendes Diskussionsthema! Für mich ist das Wort "erziehen" tatsächlich negativ besetzt, da ich es mit "ziehen, herausziehen" verbinde und meiner Meinung nach eine veraltete Form des Umgangs mit Kindern widerspiegelt. Dieses Wort klingt für mich nach Druck, Maßnahmen, Kontrolle, Beschneidung, Manipulation, in eine Richtung drängen wollen,
ein Kind nach seinen erwachsenen Vorstellungen formen wollen - "ziehen und zerren". Ich finde die Beschreibungen "Begleitung", "Vorbild sein", "Unterstützung" etc. viel treffender und es entspricht für mich viel mehr meiner Idealvorstellung des Umgangs mit Kindern. Ich bemerke auch bei mir, dass der Gedanke "erziehen" zu müssen oder zu wollen immer eine bestimmte Komponente mit sich bringt, die sehr rational und aufgesetzt ist. Immer wenn ich "erziehen" möchte, zeigt mir meine Tochter, dass sie gut und gerne auf meine Erziehung verzichten kann

Wenn ich sie begleite, unterstütze, ihr auf Augenhöhe begegne, ihren Fähigkeiten vertraue
ohne ihr durch meine Erziehung etwas überstülpen zu wollen, entwickelt sie sich wunderbar. Ich gehe sogar so weit zu sagen, dass Erziehung das Gefühl und die Beziehung zwischen Kindern und Eltern negativ beeinflusst und dass dieses Wort eigentlich nicht mehr zeitgemäß ist. Puh, und jetzt kommst Du
Momo
Re: Das Wort "erziehen"
Verfasst: Fr 14. Aug 2015, 22:11
von Rabaukenmama
Momo hat geschrieben: Ich gehe sogar so weit zu sagen, dass Erziehung das Gefühl und die Beziehung zwischen Kindern und Eltern negativ beeinflusst und dass dieses Wort eigentlich nicht mehr zeitgemäß ist. Puh, und jetzt kommst Du
Kommt ganz darauf an was man eben unter dem Wort versteht. Die tatsächliche Bedeutung oder das, was der Volksmund daraus gemacht hat. Das "Proletatiat" ist in seiner echten Wortbedeutung ja ein Synonym für "arbeitendes Volk", somit bin ich als berufstätige Frau eine Proletin. Im Volksmund ist "Prolet" aber eher ein Schimpfwort und bedeutet so was ähnliches wie "primitiver, ungebildeter Mensch mit schlechten Umgangsformen und sozialen Schwierigkeiten".
Dasselbe Phänomen sehe ich beim Wort "erziehen". Die echte Bedeutung kennt kaum jemand und daher wird darunter nicht die positive, entwicklungsfördernde Komponente gesehen, sondern manipulatives bevormunden um das Kind in ein Schema zu pressen. Komischerweise sind aber auch die Bücher von Gordon, Juul & Co unter dem Überbegriff "Erziehungsratgeber" zusammengefasst -genauso wie die Bücher von Amy Chua und Winterhoff. Dabei sind die dort vertretenen Ansichten darüber, wie man Kinder erziehen soll, unterschiedlich wie Tag und Nacht.
Daher ist das Wort "Erziehung" für mich weder positiv noch negativ besetzt. Wenn jemand "begleiten" besser gefällt als "erziehen" - bitte! Für micht trifft es aber nicht den Kern, denn Begleitung ist in meinen Augen etwas freiwilliges, unverbindliches, auf das man auch verzichten könnte. Dagegen ist das, was ICH unter Erziehung verstehe, unverzichtbar.
Re: Das Wort "erziehen"
Verfasst: Fr 14. Aug 2015, 23:05
von Momo
Rabaukenmama hat geschrieben:
Kommt ganz darauf an was man eben unter dem Wort versteht. Die tatsächliche Bedeutung oder das, was der Volksmund daraus gemacht hat.
Wikipedia erklärt die Wortgeschichte folgendermaßen:
"Das Wort „erziehen“ geht auf ahd. irziohan („herausziehen“) zurück und nimmt unter dem Vorbild des Wortes educare (lateinisch für „großziehen“, „ernähren“, „erziehen“) bald die Lehnbedeutung „jemandes Geist und Charakter bilden und seine Entwicklung fördern“ an."
Also, der Ursprung liegt in der Bedeutung "herausziehen" und daran angelehnt hat sich erst die Bedeutung „jemandes Geist und Charakter bilden und seine Entwicklung fördern“ entwickelt und nicht andersherum!
Liebe Grüße von Momo
Re: Das Wort "erziehen"
Verfasst: Sa 15. Aug 2015, 11:38
von Rabaukenmama
Momo hat geschrieben:Rabaukenmama hat geschrieben:
Kommt ganz darauf an was man eben unter dem Wort versteht. Die tatsächliche Bedeutung oder das, was der Volksmund daraus gemacht hat.
Wikipedia erklärt die Wortgeschichte folgendermaßen:
"Das Wort „erziehen“ geht auf ahd. irziohan („herausziehen“) zurück und nimmt unter dem Vorbild des Wortes educare (lateinisch für „großziehen“, „ernähren“, „erziehen“) bald die Lehnbedeutung „jemandes Geist und Charakter bilden und seine Entwicklung fördern“ an."
Also, der Ursprung liegt in der Bedeutung "herausziehen" und daran angelehnt hat sich erst die Bedeutung „jemandes Geist und Charakter bilden und seine Entwicklung fördern“ entwickelt und nicht andersherum!
Liebe Grüße von Momo
Und wie stellt Frau Lehrerin den Zusammenhang zwischen "herausziehen" und "ein Kind nach den Vorstellungen des Erwachsenen formen wollen" her?
Zumindest für mich ist diese urprüngliche Bedeutung nicht grundsätzlich negativ besetzt. Aber wahrscheinlich geht´s ohnehin nur noch ums recht-haben. Wie halt die meisten Eltern glauben, zu wissen, was "richtig" ist

.
Re: Das Wort "erziehen"
Verfasst: Sa 15. Aug 2015, 12:33
von Momo
Rabaukenmama hat geschrieben:
Und wie stellt Frau Lehrerin den Zusammenhang zwischen "herausziehen" und "ein Kind nach den Vorstellungen des Erwachsenen formen wollen" her?
Besteht da für Dich kein Zusammenhang? Für mich hat Erziehung sehr viel mit den Vorstellungen der Gesellschaft oder auch der Eltern zu tun, wie sich ein Kind zu verhalten hat. Erwartungen, die erfüllt werden müssen und "Erziehungsmaßnahmen", um dieses Ergebnis beim Kind zu erreichen.
Gerade Du mit Deinen beiden "Rabauken" müsstest doch ähnlich sensibel und kritisch auf diese gesellschaftlichen Konventionen reagieren
Ein sonniges Wochenende wünscht Momo
Re: Das Wort "erziehen"
Verfasst: Sa 15. Aug 2015, 13:17
von Rabaukenmama
Momo hat geschrieben:Rabaukenmama hat geschrieben:
Und wie stellt Frau Lehrerin den Zusammenhang zwischen "herausziehen" und "ein Kind nach den Vorstellungen des Erwachsenen formen wollen" her?
Besteht da für Dich kein Zusammenhang? Für mich hat Erziehung sehr viel mit den Vorstellungen der Gesellschaft oder auch der Eltern zu tun, wie sich ein Kind zu verhalten hat. Erwartungen, die erfüllt werden müssen und "Erziehungsmaßnahmen", um dieses Ergebnis beim Kind zu erreichen.
Gerade Du mit Deinen beiden "Rabauken" müsstest doch ähnlich sensibel und kritisch auf diese gesellschaftlichen Konventionen reagieren
Ein sonniges Wochenende wünscht Momo
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! Die Frage lautete: Was bedeutet für Dich "herausziehen" und warum ist es negativ besetzt?
Ich denke ja bei "herausziehen" mal instinktiv an jemanden, der aus dem Wasser gezogen und somit gerettet wird. Oder jemanden, der in einem Riesenschlamassel steckt und dann streckt sich ihm eine helfende Hand entgegen. So schaffe ich zumindest irgendwie eine Überleitung zu dem, wo unsere Kinder drin stecken und "durch müssen".
Was irgendwer ANDERER vielleicht unter Erziehung versteht ist mir bekannt (siehe Eröffnungbeitrag) aber ziemlich egal. Es gibt ja auch Eltern, die sagen "Ich erziehe nach Jesper Juul" - das würde sich ja deiner Therorie nach in sich wiedersprechen (so, als würde man behaupten, das Kind gewaltfrei zu schlagen). Daher versteht die Mutter, die behauptet, nach Juul zu erziehen, offensichtlich was anderes unter dem Wort wie die Oma, die wettert dass ihre Enkel endlich erzogen werden sollen.
Re: Das Wort "erziehen"
Verfasst: Sa 15. Aug 2015, 13:35
von Momo
Rabaukenmama hat geschrieben:
Die Frage lautete: Was bedeutet für Dich "herausziehen" und warum ist es negativ besetzt?
Im Zusammenhang mit dem Wort Erziehung verstehe ich das Ursprungswort "Herausziehen" so, dass die aus Erwachsenensicht "guten Eigenschaften" und "gutes Verhalten" aus den Kindern herausgezogen werden. Für mich sagt dieses Wort in
diesem Zusammenhang aus, dass Kinder sich nicht aus sich selbst und ihrem Charakter entsprechend entwickeln dürfen, sondern dass etwas heraus- oder auch herangezogen wird. Das Wort Herausziehen verdeutlicht als Ursprungswort sehr gut, warum ich das Wort "Erziehen" nicht mag.
Momo
Re: Das Wort "erziehen"
Verfasst: Sa 15. Aug 2015, 14:44
von BiHa
Ich mische mich mal mit ein.

Ich finde erziehen oder auch herausziehen grundsätzlich nicht negativ besetzt. Am Ende möchte ich doch, dass mein Kind bestimmte Verhaltensweisen zeigt, um gesellschaftskonform zu sein. Dabei geht es nicht ums Gehorchen (am besten noch ohne Nachzufragen) sondern um alltägliche Dinge wie Bitte und Danke sagen, Grüßen, bestimmtes Benehmen am Tisch. Wenn ich meine Kind solche Dinge nicht zeige, dann wird es es irgendwann schwer haben. Wie ich dem Kind solche Regeln beibringe, ist das Erziehungskonzept der Eltern. In diesem Konzept ist auch festgelegt, was ich alles möchte, dass das Kind lernt, sich aneignet, erfährt. Was sich grundlegend unterscheiden kann, sind die Erziehungsmethoden. Und da kann man dann auch streiten, ob man es erziehen oder begleiten nennt. Am Ende ist es aber eine Methode und das zugrunde liegendende Ziel ist das gleiche.
Re: Das Wort "erziehen"
Verfasst: Sa 15. Aug 2015, 14:46
von Karen
Ich finde eure Diskussion sehr spannend. Ich habe nicht viel Hintergrund wissen dazu, aber eine Meinung

Ich benutze täglich vier Sprachen, und Deutsch ist nicht meine Muttersprache. Deshalb merke ich dass die andere Sprachen mein Deutsch beeinflussen. Weil das Wort Erziehung in meine beiden Muttersprachen für mich eher negativ besetzt ist, habe ich gerade gemerkt dass ich es eher vermeide. In Englischem gibt es kein direktes Äquivalent für Erziehung: es werden "to educate" and "to train" für eher "ausbilden" gebraucht, und "to parent" and "to nurture" für alles anderes dass nicht mit ausbilden zu tun hat (parenting wird eher über "unterstützung" definiert, aber ich bin nicht so sicher dass es 100% stimmt, ich empfinde es einfach mehr als "Unterstützung" bei grosswerden als "erziehen". ). Es gibt noch "rearing" was ich als "züchten" übersetzen würde, und dass ist für mich sehr negative. Das ist der Grund wieso ich das Wort Erziehung als negative empfinde, da ich einfach in andere Spachen bessere Alternativen habe und die auch dann brauche. Das andere Grund ist dass für mich Erziehen eher mit Einfluss von Aussen zu tun hat (und es ist auch in der Definition von Rabaukenmama so, obwohl positiv formuliert). Ich glaube aber fest daran dass die Entwicklung von Kindern von innen stattfindet: dass Kinder aus eigenen Wunsch und Motivation lernen und sich weiter Entwickeln, inklusive sich sozialen Normen anpassen, wenn sie nicht daran verhindert werden. Klar wir haben ein Einfluss von Aussen in dem das wir ein Vorbild für Kinder sind, aber es ist für mich ein passiven Einfluss und nicht aktiven was ich unter "erziehen" verstehe. Und ich glaube, ich mache sehr wenig bis gar nichts Aktiv um das Charakter oder Geist von meine Tochter zu beeinflussen. Ich fordere sie nie zum Teilen, sich Benehmen, .... Wenn sie schlagen möchte, darf sie es auch: einfach keine Leute, Tiere und Stofftiere. Es passiert bei uns vieles über Beispiele und Vorbild sein (wir, andere Kinder in Kita, erwachsene, Gesellschaft) und ich finde es ist auch richtig so nichts daran Aktiv zu ändern, ausser Hilfe zu bieten wenn die Vorbilder manchmal negativ sind. Grenzen setzten ist aktiv, wir aber bei uns auch sehr wenig gebraucht. Ich glaube dass alle die Bedürfnisorientiert erziehen, das Kind und deren Charakter und Geist in Entwicklung begleiten als aktiv bilden oder fördern.