Ist das nicht ein gewaltiger Anspruch an dich selbst? Wer kann sich schon bei einer Entscheidung 100%ig sicher sein??? Ich erzähl einfach mal von meinen Entscheidungen der letzten Jahre um dir zu zeigen was ich meine.Erbeerzwergi hat geschrieben: Bin ich wirklich so eine Rabenmutti?
Das Problem liegt denk ich eher hier ...
Ich muss mir endlich meiner Entscheidung 100% sicher sein,.
Mein Mann hat eine unheilbare Krankheit, die Körper, Geist und Seele zerstört. Die Krankheit ist unheilbar, kann aber - wenn man sich an gewisse Verhaltensregeln strickt hält - ein Leben lang zum Stillstand gebracht werden (aber auch jederzeit wieder ausbrechen und zum Wahnsinn oder Tod führen). Meinem Mann hat diese Krankheit, nachdem 20 Jahre darunter gelitten hat, seit knapp 9 Jahren zum Stillstand gebracht.
Ich weiß, dass ich meinen Mann sehr liebe und dass er ein wunderbarer, verantwortungsbewusster und vor allem sehr ehrlicher, loyaler Mensch ist. Die Entscheidung vor knapp 6 Jahren war: will ich mit diesem Menschen eine Familie gründen? Ich war schon 37, mein Mann 2 Jahre älter und die Krankheit war damals nicht mal 3 Jahre zum Stillstand gebracht. Ich dachte: Was ist, wenn die Krankheit wieder ausbricht? Was, wenn wir dann Kinder haben? Was, wenn ich damit nicht fertig werde? Ich habe mich schließlich dafür entschieden, mit meinem Mann eine Familie zu gründen. 100% sicher war ich meiner Entscheidung aber bei weitem nicht.
Mein Mann war dadurch, dass ihn seine Krankheit zeitweise arbeitsunfähig gemacht hat, und durch die sonstigen Auswirkungen stark verschuldet. Auch ich hatte Altlasten aus meiner vorangegangenen Beziehung, wo ich zwar nichts "dafür konnte", aber die Schulden waren trotzdem da und ich hatte nicht die Kraft sie durch einen Rechtsstreit (bei meinem Ex auf biegen und brechen) vielleicht loszuwerden. Mein Mann hat außerdem einen Sohn aus erster Ehe für den er alimentationspflichtig ist. Also nicht die besten Voraussetzungen, ein Kind in die Welt zu setzten. Was, wenn mein Mann wieder krank wurde? Könnte ich trotz der Schuldenlast mich selbst und ein Kind durchbringen? Würde ich den Rest meines Lebens von meinen Eltern finanziell abhängig sein? Wir haben uns dann für ein Kind entschieden, 100%ig sicher waren wir aber nicht.
Nachdem vor 4 1/2 Jahren mein älterer Sohn geboren wurde ließ ich mir die Spirale einsetzen. Ich wollte langzeitstillen und suchte daher eine hormonfreie Möglichkeit der Verhütung. Trotzdem wurde ich mit über 40 Jahren wieder schwanger. Es war erst mal ein Schock. Unsere finanzielle Situation besserte sich zwar langsam, war aber immer noch angespannt. Unsere Wohnung hat nur ein einziges, kleines Kinderzimmer. Und der Rest unserer Lebensplanung war auch auf nur ein gemeinsames Kind ausgelegt. Da eine Abtreibung für mich aber nicht in Frage kam (einige Jahre zuvor hätte es noch anders ausgeschaut) haben wir uns FÜR unser "Wunschkind auf eigenen Wunsch" entschieden - 100%ig sicher waren wir aber nicht.
Nachdem mein kleiner Sohn geboren war merkte ich bald, dass etwas nicht stimmt. Er reagierte überhaupt nicht auf Geräusche und Lärm. Da mein älterer Sohn sehr laut war fiel das rasch auf. Mit 3 Monaten hatten wir die fixe Diagnose: komplett gehörlos! Von Ärzten und Logopäden wurde mir zu einer Operation geraten, wo dem Kind unter Vollnarkose beidseitig der Schädel aufgefräst wird und elektromagnetische Hörimplantate (Cis) eingesetzt werden. In Kombination mit Mikrofon und Sender können so auch gehörlose Menschen künstliche Höreindrücke haben.
Etwa 50% der Kinder, die solche Implantate in den ersten Lebensjahren eingesetzt bekommen, lernen normal sprechen. 25% der Kinder profitieren dagegen gar nicht davon. Der Rest hört zwar ein bisschen, aber nicht ausreichend zum Spracherwerb. Die Implantate halten durchschnittlich 15 Jahre, dann muss wieder operiert werden - also wenn man eine Lebenserwartung von 80 Jahren annimmt stehen einem beidseitig frisch implantierten Baby noch 10 weitere Schädel-OPs unter Vollnarkose bevor.
Natürlich ist ein Mensch mit Hörimplantaten - auch wenn sie super funktionieren sollten - ein Leben lang von Akustikern, Batterien und einer stabilen wirtschaflichen und politischen Lage, wo das alles verfügbar ist, abhängig. Mit Implantaten darf man auch z.B. keine Kampfsportarten ausüben, die Außenteile dürfen nicht nass werden, wodurch man z.B. beim baden und schwimmen wieder gehörlos ist, man darf keine Magnetresonanzuntersuchungen machen, braucht einen speziellen Ausweis, weil man nicht durch Kontrollschleusen (Flughafen) gehen darf, usw. Kind müssen aufpassen, nicht auf Metallrutschen zu rutschen (wegen elektromagnetischer Aufladung) oder mit bestimmten magnetischen Spielzeugen zu spielen, welche die Wirkung der Inplantate stören oder diese gar kaputt machen könnte...
Diese Entscheidung war die schwerste meines bisherigen Lebens. Wir haben uns nach fast 1 Jahr überlegen FÜR die OP entschieden. Von 100%sicher-sein waren sowohl mein Mann als auch ich kilometerweit entfernt.
Danach meldete meine Firma Anpruch auf meine Arbeitskraft an. Die gesetzlichen 2 Jahre Karenz sind kein Problem, aber darüber hinaus war man zu keinen Kompromissen bereit. Ich wäre gerne noch ein Jahr länger bei meinem kleinen Sohn zu Hause geblieben. Doch dann hätte ich meinen Job verloren und damit viele Vorteile: überdurchschnittliche Bezahlung, Möglichkeit der Elternteilzeit, Arbeit mit dem Rad in 10 Minuten erreichbar, netter Kollegen, interessante Tätigkeit, relativ krisensicher,...
Ich war realistisch genug um zu wissen, dass ich in anderen Firmen diese Vergünstigungen nicht haben würde, sondern dass es - im Gegenteil für eine Frau Mitte 40 mit zwei kleinen Kindern, wovon eines behindert ist, schwer sein wird, überhaupt irgendeine halbwegs akzeptable Arbeit zu finden. Daher habe ich mich entschlossen, meinen kleinen Sohn schon mit 2 Jahren in den Kindergarten zu geben. Der Kindergarten liegt am anderen Ende der Stadt und der Kleine sitzt täglich mindestens 2 Stunden im Shuttle-Bus. 100%ig sicher war ich aber auch bei dieser Entscheidung bei weitem nicht.
Was ich damit sagen will: man weiß NIE was die Zukunft bringt. Sicherheit ist eine Illusion. Aus Ängsten heraus sind wir oft verleitet, Entscheidungen zu treffen, mit denen wir glauben, das kleinere Übel zu wählen. In Wirklichkeit kann NIEMAND wissen wie die Situation in einem Jahr aussehen wird.
Vor meiner Entscheidung bezüglich Hörimplantate ja-nein habe ich mir die Beweggründe vieler Menschen angehört, die diese Entscheidung ebenfalls einmal getroffen haben.
Die Gründe FÜR Hörimplantate waren: das Kind soll möglichst "normal" sein, es soll nicht auf Grund seiner Behinderung ausgeschlossen oder gemobbt werden, es soll eine normale Schule besuchen können um nicht später beruflich benachteiligt zu sein, es soll mir später einmal nicht vorwerfen, die OP nicht vornehmen haben zu lassen, hörende Eltern hatten auch Angst davor, dass ihr Kind ihnen entfremdet werden könnte wenn sie nicht alles unternehmen damit es normal sprechen lernt - es könnte dann ja den Kontakt mit anderen Behinderten (Gehörlosengemeinschaft) vorziehen.
Die Gründe GEGEN Hörimplantate waren: bei der Operation oder danach könnte was schiefgehen, das Kind könnte ein Leben lang Schmerzen haben, bei nicht-funktionieren wären weitere OPs nötig, das Kind soll so genommen und geliebt werden, wie es ist und das Kind soll mir später einmal nicht vorwerfen, die Operation vorgenommen zu haben weil es so, wie es geboren wurde, nicht "entsprochen" hat. Gehörlose Eltern hatten auch Ängste, das Kind könnte ihnen durch die OP entfremdet werden weil es dann vielleicht ja auch mit Hörenden kommunizieren kann und dadurch seine "Wurzeln" (Gehörlosengemeinschaft) vergessen oder verleugnen könnte.
Nachdem ich beide Seiten gehört hatte fiel mir eines auf: ALLE diese Entscheidungen waren angstgesteuert. Kein einziger war dabei, der gesagt hat: ich entscheide mich FÜR diese Option, weil mein Kind dadurch Vorteile hat. Fokus war nur auf die Nachteile und statt Vorteilsoptimierung war Schadensminimierung Hauptgedanke bei den Überlegungen.
Ich habe dann BEWUSST versucht meine Ängste beiseite zu legen. Schließlich bin ich zu dem Entschluss gekommen dass mein Sohn keine Implantate BRAUCHT um in der Welt zu bestehen oder irgend jemandens Vorstellungen zu entsprechen. Er ist so, wie er ist, ein vollwertiger Mensch. Ich ermögliche ihm Gebärdensprache, einen zweisprachigen Kindergarten, Kontakt zu Gehörlosen und nehme ihn so, wie er ist. Erst NACH diesem Entschluss konnte ich mich dafür entscheiden, der Operation und dem nachfolgenden Reha-Weg OHNE DRUCK UND ZWANG zuzustimmen. Die Entscheidung war nicht mehr angstbesetzt sondern nur noch positiv (wenn auch trotzdem nicht 100%ig sicher).
Erdbeerzwergi, ich wünsche Dir von ganzem Herzen das du es schaffst, deine Ansprüche an dich selbst bezüglich 100%iger sicherer und im Sinne des Kindes allerbesten Entscheidungen runterzuschrauben! Du bist ein Mensch und darfst Fehler machen. Du mußt dir nicht 100%ig sicher sein! Dein Kind wird auch damit leben können dass Mama mal was nicht weiß und wo unsicher ist. Das macht dich sogar noch menschlicher, denn wir sollen und wollen für unsere Kinder ja keine fehlerfreien, allwissenden Götter sein!