Hallo Heiner,
vielleicht solltest du doch noch mehr darüber lesen, was Kinder brauchen. Ich bin der festen Überzeugung, dass Kinder die Dinge lernen, die ihnen vorgelebt werden. Allerdings denke ich, dass man bei der Aufzählung ganz klar auch anmerken muss, dass die motorischen Fähigkeiten nicht an die Intelligenz gekoppelt sind und ebenso wenig das, was das Kind daraus macht. Es gibt eine Vielzahl an Einflüssen, die bedingen, wann ein Kind was lernt. Man darf auch nicht unterschätzen, dass Kinder ab einem gewissen Alter sich auch vieles von den Altersgenossen abschauen. Das heißt, wenn dein Kind jetzt irgendwelche Planeten aufzählen kann und es dann plötzlich im Kindergarten uncool wird, dann kann es sein, dass dein Kind das innerhalb von vier Monaten einfach wieder vergisst. Meistens bleibt Wissen in den Köpfen auch dann hängen, wenn die Kinder damit irgendeine emotionale Erinnerung verbinden. Meine Tochter weiß noch unheimlich viele Details aus der alten Wohnung meiner Mutter, die umzog, als A. 2 1/2 war. Sie kann sich noch an die Vögel erinnern und wo die große Kamelie stand. Aber wenn ich sie heute nach der Sesamstraße frage, dann weiß sie nicht mehr, wer Elmo ist. Mit knapp 2 konnte sie diverse Figuren aus der Sesamstraße mit Namen nennen, aber das hat für sie an Bedeutung verloren.
Kinder haben die Fähigkeit, unfassbar viel Wissen anzuhäufen und die Erwachsenen damit zu beeindrucken und es dann nach kurzer Zeit einfach wieder aus dem Gehirn rauszuschmeißen.
Du kannst dir sicher vorstellen, da deine Tochter ja noch nicht so viel spricht, wie beeindruckend es für uns als Eltern damals war, als A. bei den Top 100-Hits von Rolf Zuckowski jeden Refrain, bei manchen Liedern sogar eine ganze Strofe mitsingen konnte. Da war sie 1 1/2 und hat gerade laufen gelernt. Und inzwischen hat sie die Hälfte davon auch wieder vergessen. ich fand es damals beeindruckend, dass sie so ein gutes Gedächtnis hat. Mir war aber überhaupt nicht klar, dass dies für das Alter auch ein großer sprachlicher Vorsprung war. Erst, als sie mit 2 in die Kinderkrippe kam, und die gleichaltrigen Kinder alle noch gar nicht richtig sprechen konnten, da wurde mir das dann so schleichend bewusst.
Dabei musste ich aber auch viele Dinge vermissen, die sie einfach nie machen wollte. Sie hat keine Türmchen mit Bauklötzen gebaut, sie wollte nie mit dem Bobbycar fahren, sondern immer nur drauf sitzen, und sie hat auch bis sie vier Jahre alt war, nicht mal ansatzweise gegenständlich gemalt. Dafür habe ich sie mal beobachtet, wie sie ihre Bauklötze auf dem Teppich nach Farben, Formen und Größe sortiert hat. Eine zeitlang hat sie verschiedene Gegenstände, die meiner Meinung nach keine Gemeinsamkeiten hatten, in Waschlappen und Tücher eingewickelt und in ihrem Zimmer gehamstert. Wenn man die Sachen wegnehmen wollte, hat sie einen Wutanfall bekommen. Sie wusste exakt im Kopf, was alles in den einzelnen "Nestern" drin war. Als sie anfing, auch unsere Schlüssel zu entführen, mussten wir dem ganzen Ende setzen und das war ein Riesendrama. Dann hatte sie Phasen, wo sie alles mit Bändern und Schnüren verpackt und verknotet hat wie Christo und seine Frau. Sie hat Schuhbänder verknotet und Türklinken festgebunden und Barierren vor ihrer Zimmertür errichtet.
Ich habe mich oft gefragt, warum dieses Kind nicht einfach mal ganz normal mit ihren Spielsachen spielen kann. Aber es hätte auch keinen Sinn gehabt, mich mit ihr auf den Boden zu setzen und ihr zu zeigen, wie man bestimmte Spielsachen bedient. Aber allein durch Beobachtung, wie ich ganz normale Tätigkeiten eines erwachsenen Menschen verrichtet habe, hat sie sich das abgeschaut, was ihr lernenswert erschien. Und was sie nicht lernen wollte, das hat sie auch nicht gelernt. Vielleicht hat das vielen anderen Eltern auch ganz gut in den Kram gepasst, da sie ja ganz offensichtlich in manchen Dingen mit Gleichaltrigen nicht mithalten konnte. ich weiß noch, wie wir ausgelacht wurden, weil sie mit 2 Jahren noch nicht auf einem Trampolin springen konnte.
Ich finde es ehrlich gesagt ganz normal, dass man auch mal Sachen aufschreibt, wenn die Kinder dabei sind. Aber ob sie sich dafür interessieren, was und wieviel sie davon erkennen können, das liegt eben nicht in der Hand der Eltern. Meine Tochter kann schon ganz ganz lange den Schriftzug von IKEA wiedererkennen und sie kennt auch die Buchstaben, die darin vorkommen und sagt auch sowas wie: "Drei Buchstaben, die in dem Wort Ikea vorkommen, kommen auch in meinem Namen vor. Nur einer nicht, rate mal welcher das ist!" Aber wenn ich jetzt sagen würde, dass sie mal das ABC aufsagen soll, kann sie das nicht. Wahrscheinlich will sie es nicht. Sie kann aber McDonalds und Burger King nicht auseinander halten, das ist für sie ein und dasselbe.
Ich will damit nur verdeutlichen, dass die Kinder überhaupt noch keinen Sinn dafür haben, was im Sinne der Schulbildung später eine Bedeutung haben könnte. Sie lernen die Dinge, die ihnen wichtig erscheinen, aus welchen Grund auch immer. Ich kann dazu nur sagen, dass wir bei allen Listen zum Thema Hochbegabung mindestens die Hälfte direkt durchstreichen können. Aber die Dinge, die sie teilweise kann und die dann auffällig werden, tauchen dann auf keiner Liste auf, weil es so individuell ausgeprägt ist, dass kaum einer das bei einer Befragung angeben würde. Ich persönlich glaube auch, dass die fehlende Eifersucht auf ihre Schwester auch ein Teil der Ausprägung ist, da sie vor der Geburt schon so viele Fragen gestellt hat (Kann sie mich schon hören?) und sich selber mehr in meine Lage versucht hineinzuversetzen. Sie sieht ihre Schwester also weniger als Konkurrenz, sondern versucht die Nähe zu mir zu halten, indem sie sich sozusagen meinen Kopf zerbricht. Ich finde aber manchmal, sie übernimmt schon manchmal zu viel Verantwortung. Jedes Mal, wenn sich die Kleine den Kopf stößt, entschuldigt sich A. dafür, weil sie meint, sie hätte nicht gut genug aufgepasst. Viele Fragen mich dann, wie ich es geschafft habe, dass die Kinder so gut miteinander auskommen. Das tun sie aber erstens nicht immer und zweitens hat A. sich schon immer so bemüht und die Kleine antwortet darauf mit sehr viel Liebe und Hingabe. (Dies kann aber keiner mit nur einem Kind als Zeichen einer Hochbegabung in Betracht ziehen, weil die Situation einfach nicht gegeben ist.)
Insofern wird dir auch die Aufzeichnung von vermeintlich wichtigen Entwicklungsschritten gar nicht so viel nützen, da du bestimmte wichtige Entwicklungen gar nicht mitbekommst. Manche Kinder entwickeln sich auch deshalb langsamer, weil sie unheimlich lange an Krankheiten, Zähnen, an der Trennung der Eltern oder an sonstwas rumlaborieren. So kleine Kinder leisten unheimlich viel im Verborgenen. Beim zweiten Kind hat man auch einen ganz anderen Blick dafür. Bei L. ahne ich jetzt schon, dass sie bald aufs Töpfchen gehen wird. Und bei A. wäre ich im Leben nicht auf die Idee gekommen, in dem Alter mit dem Thema schon anzufangen, aber ich weiß ja im Nachhinein auch, worauf ich achten muss. Ich meine nicht, dass ich bald irgendein Training anfangen werde, sondern ich denke, ich stelle das Töpfchen hin und sie wird von ganz allein draufgehen. Bei A. hat es so bestens geklappt.
Wahrscheinlich musst du dich einfach dran gewöhnen, dass dein Kind sich immer ganz anders entwickeln wird als andere Kinder. Und so musst du auch den Mut haben, deine ganz eigenen Entscheidungen (natürlich mit der mit Mutter zusammen) zu treffen. Du wirst vielfach keine Bestätigung bekommen, eher skeptische Bemerkungen. Die einzige, die dir verlässliche Rückmeldungen geben kann, ist deine Tochter. Dein Kind ist noch nicht in der Trotzphase und hat somit ihren eigenen Willen auch noch nicht ganz so ausgeprägt. Aber das wird kommen und da wirst du dann sehen, wie deine Bemühungen ankommen. Und dann geht auch die Zeit los, wo sich die Kinder alleine beschäftigen können und wollen. Da kannst du eh nur noch Angebote machen, aber das Kind sucht sich dann seine Steckenpferde.
Ach, und ich kann euch nur wünschen, dass ihr den Mut habt, eurer Kind auch mal ein bisschen laufen zu lassen. Man sollte nicht alles, was es tut, irgendwie bewerten und stets überprüfen, ob das schon ein Zeichen für eine Hochbegabung sein könnte. Das macht das Kind so zum Objekt, dabei sollte man sein Kind nicht objektiv, sondern immer mit dem Herzen betrachten. Für die objektive Begutachtung gibt es noch genügend andere Experten.

"Entschuldigung, ich habe nur kurz fantasiert." meine große Tochter, 4 Jahre alt (inzwischen 9 geworden)