Hallo Koschka,
hier treffen wir uns wieder. Vorhang auf, für Runde Nr. 2.
Natürlich hast du Recht, dass eine Frau von der Förderstelle keine Diagnostik macht. Uns ging es auch nicht um eine Diagnose, die auch ein Psychologe, wenn er denn seriös ist, nur mit einem speziellen Intelligenztest stellen könnte, für den sie noch viel zu jung ist - obwohl auch da viel herumgequacksalbert wird. Doch nur der Test könnte beweisen, dass die Ursache für die Symptome eine Wahrnehmungsstörung dieser Art ist (keine zusammenhängenden Bilder erkennen, keine Zusammenhänge herstellen, keine Gesichtsausdrücke deuten können).
Allerdings ist eine Erzieherin erst Recht keine zuverlässige Instanz, wie du ja selber am besten weißt, und außer der Erzieherin wäre keiner, der meine Tochter besser oder weniger gut kennt, auf die Idee verfallen, sie könne Autismus haben - und das, obwohl sowohl ich als Lehrerin, als auch meine Mama ebenfalls Erzieherin, im pädagogischen Feld tätig sind. Wir hatte diesen Verdacht zwar eine Zeit lang, als sie sich mit 1,5 so sehr für Zahlen und Buchstaben interessierte, aber wir haben ihn dann schnell verworfen, als zunehmend klar wurde, dass sie sich sonst völlig normal und gut entwickelte.
Die Frau von der Förderstelle ist zu uns gekommen, um festzustellen, ob Förderbedarf besteht. Und sie war von unserer Tochter, so ihre Aussage, "ausgesprochen positiv beeindruckt" und völlig geplättet, warum jemand der Meinung sei, da könne Förderbedarf oder gar Autismus vorliegen.
Also lange Rede, kurzer Sinn: Ein im Großen und Ganzen "normales" Kind, würde man nicht einer Autismusdiagnose unterziehen, die ja auch belastend für alle Beteiligten ist. Meine Tochter hat unter der Anspannung sehr gelitten, auch wenn nichts diagnostiziert wurde.
Ich bin inzwischen ziemlich davon überzeugt, dass es etwas mit Reizüberflutung (Hypersensibel), viel Phantasie (was sehr gegen Asperger spricht), Eigensinn und Pflege ihres Individualismus zu tun hat. Das ist auch nicht ganz abwegig, da der Apfel ja bekanntlich nicht weit vom Stamm fällt - hüstel.
Und nun zum Hochbegabung und Sozialverhalten Problem. Es stimmt, dass die "TYPSICHEN" Sozialprobleme nicht unbedingt bei Hochbegabten, sondern vor allen Dingen bei "Höchstbegabten" (IQ ab 150) zu finden sind. Das ist so ein klasssiches Missverständnis. Hochbegabung heißt nicht "Genial" und dabei womöglich noch "sozial unfähig". Das gilt auch nicht für alle Höchstbegabten. Häufig sind Hochbegabte sogar sozial sehr reif. Probleme können aber trotzdem auftreten z.B. weil schlaue Kinder (und damit meine ich nicht nur Hoch- oder Höchstbegabte sondern auch überdurchschnittlich Begabte IQ ab 117)), oft einen sehr starken Willen haben, häufig einen gewissen Perfektionismus pflegen, einen eigenen Plan verfolgen, den sie haargenau so umsetzen wollen, wie es ihnen vorschwebt, gerne die Bestimmerrolle haben, eine geringe Frustrationstoleranz aufweisen (nicht gelernt haben mit Misserfolgen umzugehen), andere Interessen haben als Gleichaltrige etc. Dazu kommt dann noch, dass solche Kinder oft mehr wahrnehmen als andere und/oder Situationen oft besser einschätzen können (z.B. ob etwas gefährlich ist). Auch leben sie nicht so sehr im Augenblick, wie viele andere. Sie vergessen und vergeben nicht so leicht.
Meine Tochte ist sicher nicht Höchstbegabt. Ich wär mir auch nicht sicher, dass sie HB ist. Aber sie hat viele dieser Eigenschaften und ich kann mich da gut in sie hineinversetzen, weil sie das Meiste wohl von mir hat. Aber bei ihr ist es noch ausgeprägter als bei mir. Z.B. nimmt sie es einem anderen Kindergartenkind noch heute übel, dass es vor vielen Wochen mal mit einer Stöckchenpistole auf sie gezielt hat und "Peng" gesagt hat. Kaum sieht sie diesen Jungen, fragt sie mich: "Will der mich wieder abschießen? Das darf der aber nicht!"
In sozialen Situationen ist sie einerseits eher schüchtern und zurückhaltend, aber andererseits wenn ein anderer ihre perfekte Fantasiewelt "kaputt machen" will - wie sie es empfindet - dann wird sie richtig wütig. Das Schlimme ist nur, dass man nie genau wissen kann, wie diese Welt von ihr grade aussieht, das ändert sich dauernd, aber es ist wichtig, sie nicht zu verletzen. Ein Beispiel: Der Staubsauber ist für sie das Feuerwehrlöschfahrzeug mit Schlauch. Wenn ich jetzt ankomme und saugen will, bricht die Hölle los. Eine Fegschaufel ist das Bett von dem Teddy, und weil sie einen sehr langen Atem hat, darf diese Fegschaufel seit Wochen nicht mehr einen Zentimeter bewegt werden (zumindest nicht, wenn sie anwesend ist). Unsere Wohnung ist voll mit Dingen, die spontan in etwas anderes umfunktioniert werden und teilweise nicht mehr angerührt werden dürfen. Wenn nun Kinder zum Spielen kommen und zufällig einen Kuchen in den Backofen unserer Spielküche stellen wollen, heult sie los, weil der Backofen ja das Gefängnis von dem Kuschelmolch ist. Sie spielt wunderschön und hätte soviel, was sie mit anderen Kindern teilen könnte, aber leider traut sie sich nicht, den Ton anzugeben und sie traut sich auch nicht den anderen Kindern zu sagen, was und wie sie selber gerne spielen würde und die wiederum können nicht ahnen, dass Duplosteine der Kuchen sind und nicht verbaut werden dürfen.
In unruhigen Situationen zieht sie sich lieber zurück und spielt für sich alleine. Das überfordert sie, wenn überall Kinder herum wuseln. Sie träumt, oder spielt etwas ruhiges alleine. Darum wird sie wahrscheinlich auch umgerodelt.
Andererseits klappt es in beruhigten Situationen mit dem Spielen manchmal so gut, dass selbst die Erzieherin, meine Tochter nicht wiedererkennt. Sie reagiert auf die anderen, macht mit, schlägt Tätigkeiten vor, nimmt Kontakt auf etc. Solange sie eben nicht mit den anderen um die Machtposition verhandeln muss und kein bestehendes (womöglich vor Wochen gespieltes Spiel) dabei kaputtgemacht wird. Aber da liegt das Problem mit dem Kiga. Denn immer Kiga ist immer viel Wirbel und da hat sie selten genug Ruhe, um sich auf andere einzulassen. Das ist ihr zu unübersichtlich.
Wenn sie allerdings Asperger hätte, dann dürfte das nicht mal so, mal so sein. Und dann könnte sie wohl auch keine Gesichter deuten, über Gefühle sprechen, intensiven Blick- und Körperkontakt suchen, Zusammenhänge herstellen und erläutern und so sehr in ihren Fantasiespielen aufgehen. Außerdem würde sie die Gesellschaft anderer Kinder wohl nicht so sehr genießen. Denn das alles ist sehr untypisch für Autisten. Und bevor du jetzt dazwischen hakst - ja, es gibt auch diagnistizierte Asperger, die das eine oder andere davon können, aber in der Regel nicht so viele Punkte auf einmal und wie schon gesagt, wird da auch häufig gerne mal eine rein symptomatische Diagnose gestellt - ohne Test - und das ist seeehr fehlerträchtig. Denn nicht umsonst gelten Asperger und AD(H)S als das Sammelbecken für irgendwie auffällige Kinder, die man nicht hundertprozentig einordnen kann). Es gibt einfach so viele mögliche Ursachen, für die Auffälligkeiten, dass Asperger bei mir schon lange seeeehr weit unten auf der Liste steht. Alleine wenn man Asperger, AD(H)S und stille ADS, Hochbegabung und Hypersensibilität mal von der Symptomatik vergleicht, fällt einem auf, dass sich mindestens die Hälfte der Symptome überschneiden.
Okay, jetzt bin ich ins Schwafeln gekommen. Das ist nämlich ein Thema, bei dem es bei uns manchmal drückt. Aber glaub mir, Koschka, ich habe da lange und viel recherchiert und drüber nachgedacht und ich bin letztendlich zu dem Schluss gekommen, dass es für meine Tochter das Beste ist, so wenig Trubel wie möglich zu machen. Sie versteht viel mehr, als man denkt und sie kriegt es mit, wenn was nicht stimmt, auch wenn man nichts sagt.
