...so, jetzt hab ich nochmal Zeit, richtig zu antworten. Gestern, wie geschrieben, saß ich neben dem fluchenden Kind.

Sie schreibt heute einen Mathetest und hatte die Vorgehensweise des Lehrer komplett nicht verstanden. Also es fehlte ihr erstmal einfach an einem bestimmten Punkt das Wissen, um alles weitere lösen zu können. Und dann das mit dem Kopfrechenaufgaben, die unnötige Zeit beanspruchten und sie aus dem "Aufgabenfluss" immer wieder raus brachten.
Genauso habe ich ihr das auch erklärt:
"Du bist nicht dumm - dir fehlte einfach nur Information (um die Aufgabe zu verstehen) und Übung (um das Wissen anzuwenden)."
Außerderm hab ich ihr gesagt, dass es wie mit einem Musikinstrument sei. Man kann äußerst musikalisch sein, das heißt noch lange nicht, dass man sich ans Klavier (oder irgendein anderes Instrument) setzt und es spielen kann. Man muss wissen, wie man es spielt, die Techniken gezeigt bekommen/erlernen und sich darin üben.
Genauso ist das mit Mathe auch.
Und dass hohe Begabung NICHT heißt, alles zu wissen und zu können, sondern nur, dass es heißt, dass man besser/schneller in der Lage ist, sich etwas anzueignen.
Und dass man sich dabei unnötig behindert, wenn man von vornherein sagt: das kann ich nicht, das schaff ich nicht.
Und allein das könne die Ursache sein, wenn sie was nicht versteht.
Sie selbst hat also Einfluss darauf, ob sie etwas lernen kann oder nicht. Und zwar nicht durch ihre angeborene Intelligenz (oder Dummheit), sondern durch das, wie sie damit geht.
Ich habe mir übrigens als Kind Mathe oft von meinem mathematisch sehr begabten Bruder erklären lassen. Und er schaffte das wirklich auch bei komplizierten Themen immer so, dass ich es verstand. Daraus lernte ich, dass es nicht an MIR liegt, wenn ich sowas mal nicht kapierte, sondern vor allem erstmal auch an der Art der Vermittlung. Und nicht jede Art der Vermittlung passt gleichermaßen zu jedem Menschen. So kann es sein, dass der eine es sofort versteht, der andere nicht. Das heißt nicht, das einer der beiden klüger/dümmer als der andere ist, sondern nur, dass es für die Denkweise des einen gepasst hat und bei dem anderen nicht so gut. Und dass GERADE kluge Kinder oft um die Ecke denken und dann einfache Dinge erstmal nicht verstehen. (und sie sich dann leider dumm fühlen

)
Auch das habe ich meiner Tochter erzählt und erklärt.
Beim IQ-Test damals beobachtete die Psychologin übrigens auch, dass meine Tochter sich an ihrer Leistungsgrenze sehr unter Druck setzte, sie atmete schneller und musste mit den Tränen kämpfen.
Das fand sie auffällig und sie meinte, da könnte mal eine Prüfungsangst daraus werden.
Bisher hatten wir das Problem noch nicht, da sie ja bisher immer alles gut konnte.
Nun ist sie an einer MINT Schule mit viel und anspruchsvollerer Mathematik (was sie nicht sonderlich mag) und wie beschrieben fällt ihr aktuell auch auf die Füße, dass sie gewisse Rechentechniken nicht in- und auswendig anwenden kann.
Also wie gestern schon geschrieben: da solltet ihr (anders als ich es getan habe) auf jeden Fall dran bleiben, um spätere Problemen vorzubeugen.
Ansonsten würde ich an deiner Stelle an meinen Ansprüchen arbeiten und diese immer wieder hinterfragen.
Da meine Tochter am Anfang auch nur 1er brachte und auch sonst oft herausragte (auch sportlich, künstlerisch und in der Musik als jüngstes Kind am Saxophon, was sonst eher ältere spielen), habe ich mich auch schon dabei ertappt, enttäuscht zu sein, wenn sie mal einen Misserfolg hatte. (Ich war als Kind übrigens auch erfolgsverwöhnt)
Ich hab mich selbst im Zusammenhang mit meiner Tochter immer wieder reflektiert und zur Ordnung gerufen. Zumal ihr selbst das Herausragen immer irgendwie peinlich war und sie am Liebsten in der Masse untergeht.
Ich glaube, inzwischen bin ich da sehr viel entspannter. Durch den Test weiß ich, was sie für ein Potential, insbesondere in Mathe hat und das beruhigt mich irgendwie. Im Sinne von: "Sie ist nachweislich theoretisch in der Lage, da besser zu sein. Die Note (bisher war das allerdings maximal eine 3) zeugt also nur von schlechter Vorbereitung/dass sie müde war/Faselfehler gemacht hat/Pech hatte...
Ich denke, sowohl dir, als auch deiner Tochter werden entsprechende Erlebnisse und Erfahrungen noch helfen, gelassener zu werden. Bei Kind zwei bin ich definitiv auch schon anders, als bei der Großen damals.
(die "musste" anfangs bspw noch in allen Bereichen in der Freizeit gefördert werden - künstlerisch, sportlich, musikalisch, kognitiv... bei Kind zwei schaff ich das schonmal gar nicht mehr.)
Also deine Selbstreflektion ist auf jeden Fall wichtig und der erste Schritt zur Besserung.
Die Tipps der Psychologin vom Test zum Thema sich selbst unter Druck setzen/Perfektionismus waren übrigens:
1) Entspannungstechniken/Atemtechniken gegen die Stressymptome lernen
2) Loben eher für Anstrengung/Anstrengungsbereitschaft/Durchhaltevermögen, als für Erfolge ("Toll, du hast dich durchgebissen, obwohl du die Aufgabe XY nicht lösen konntest und hast die Arbeit trotzdem zu Ende geführt. Das find ich klasse! Die Punkte, die dir hier bei der Aufgabe, die dir schwer fiel, fehlen und die die Note verschlechtert haben, finde gar nicht so wichtig...")
3) Gründe für Gelingen immer erstmal sich selbst zuschreiben, Gründe für Scheitern mit dem Kind gemeinsam auch außerhalb suchen (der Lehrer hat es schlecht erklärt oder du warst sicher müde, weil es gestern Abend so spät war bspw...)
Im diesem Buch steht übrigens auch Einges dazu:
https://www.amazon.de/Hochbegabte-Kinde ... 771&sr=8-1
Da sind überhaupt viele konkrete Techniken und Methoden drin, die bei "typischen" Problemen kluger Kinder helfen.
Ich fand es jedenfalls gut und hilfreich.
Ach und nie vergessen (mein Mantra): Noten zeigen NICHT wie gut/klug ein Kind ist, sondern nur, welche Leistung es an dem Tag/in dem Moment geliefert hat. Nicht mehr und nicht weniger.
PS: Was ich meinem Kind auch immer wieder erklärt habe: Noten sind keine Bewertung der Person (!!!), es geht darum, eine Rückmeldung zu geben, was kann ich schon richtig gut und was nicht. Ich fürchte (und sehe darum Benotung auch kritisch), dass Grundschulkinder das noch nicht so richtig verstehen und sich als Person bewertet wahrnehmen... sie glauben wohl eher, sie mussten irgendwem beweisen, dass sie gut sind und sehen sich darin gescheitert, wenn die Note schlecht ist. Aber nein, sie müssen gar niemandem etwas beweisen, sie sollen doch an sich nur wissen, was sie schon richtig gut können und wo noch dran gearbeitet werden kann.
Das sag ich meiner Tochter auch immer: Ich finde die Zensur nicht wichtig, ich finde es wichtig, dass du es grundsätzlich verstanden hast, wie XYZ geht und ggf dran bleibst, wenn nicht. Dabei HILFT eine schlechte Note sogar, weil sie sofort zeigt, wo es noch "hakt".